„Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt übt Kritik an der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie lautet: Die Kirche rede nicht mehr über Glauben, Gott oder was nach dem Sterben kommt. Stattdessen ständig über Politik. „Die EKD ist längst nicht mehr bunt. Sie ist grün“, schrieb er. Mit dieser Kritik ist er nicht allein. Die Kritik am Eintreten für Flüchtlinge und Klima kommt oft von konservativeren Medien oder traditionelleren kirchlichen Kreisen; keine Kritik von dieser Seite dagegen am ebenfalls politischen Engagement der Kirchen in bioethischen Fragen. Beim Thema Schwangerschaftsabbruch oder assistierter Suizid, wo die Kirchen eher konservative Positionen vertreten, darf sie ruhig politisch sein. Kritik durch Kirchenmitglieder, die Parteien und Positionen nahestehen, ist natürlich berechtigt. Die Evangelische Kirche mag sich theologisch zwar als Gemeinschaft der Heiligen verstehen. Aber weltlich, als Institution, ist sie eine Art Verein und lebt von ihren Mitgliedern. Die Aussage „Die Kirche sollte nicht so politisch sein“ führt in die Irre. Politisches Handeln zielt auf die Gestaltung unseres Zusammenlebens. Auch eine Kirche, die sich ausschließlich auf so traditionelle kirchliche Aufgaben wie Seelsorge, Gottesdienst und religiöse Bildung beschränkt, handelt politisch.
Martin Luther hat zur Zeit der Bauernkriege die Obrigkeit aufgefordert, die Ordnung wiederherzustellen und die aufständischen Bauern zu töten. Die Bauern waren auch durch Kirchenmänner wie Thomas Müntzer zum Aufstand aufgerufen worden. Er wollte das politische System seiner Zeit umgestalten, Luther nicht. Wenn nun Müntzers Theologie als politisch verstanden wird und Luthers Aufforderung an die Fürsten, die Aufstände zu unterdrücken, als unpolitisch, ist das falsch. Denn genau dieser Aufruf ist natürlich ein politischer Akt gewesen. Luther hat sich, in heutigem Sprachgebrauch, als Konservativer geoutet, der die geltende Ordnung bewahren wollte. Das Christentum hat seit seiner Entstehung etwas Machtkritisches an sich. Jesus selbst war ein Outsider, sein Handeln gegen die herrschenden Verhältnisse gerichtet. Somit ist dieser Streit um die politische Ausrichtung der Kirche beinahe zwingend, seitdem das Christentum im 4. Jahrhundert Staatskirche geworden und damit auf die Seite der Macht gewechselt ist. Das zeigt sich auch in den gegenwärtigen Debatten. Die Aktionen der Letzten Generation oder von United 4 Rescue richten sich gegen die herrschende Macht. Sie passen daher gut zu den machtkritischen Anteilen des Christentums. Aber auch die konservative Haltung, die sich in den Aussagen Poschardts und Leserbriefe ausdrückt, passt gut zum protestantischen Christentum, das eben historisch gesehen lange eher traditionell war. Nur: Unpolitisch ist keine von beiden Haltungen. Dass im Protestantismus Konservative und Progressive um die öffentliche Wahrnehmung der Kirche streiten, ist gut protestantisch und zeigt, dass Kirche allen Unkenrufen zum Trotz nicht egal ist.
Konstantin Sacher
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de