Soll man sich schuldig fühlen?

Symbolbild: Bibel


Schuldige findet man schnell – für alles Mögliche: Die Religionen und ihre Vertreter sollen schuld sein an Krieg und Gewalt, Zuwanderer an der Ausländerfeindlichkeit und Juden am Antisemitismus. Schon seit alters erfinden Menschen für jede nur erdenkliche Störung die absurdesten Schuldzuweisungen. An der Infektion ist der Kranke schuld, weil er sich angeblich zu leichtsinnig verhielt. Oder die Chinesen oder die Hexen. Das 3. Buch Mose, Kapitel 14, fordert sogar, Schuld zu tilgen, wenn ein Haus von Schimmel befallen ist – wessen Schuld auch immer. Eine biblische Vorschrift aus einer uralten fremden Welt. Die Bibel dokumentiert aber auch, wie die Menschheit die Schuldfrage einzuhegen versuchte: Strafe soll nur den treffen, der sich versündigt hat, fordert das 5. Buch Mose 24,16. Grundsätze wie dieser bestimmen bis heute das Recht.

Der erste Schritt zum Eingeständnis eigener Schuld ist die Bereitschaft, von sich auf andere zu schließen. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, sagt die goldene Regel. Die Eltern oder die eigenen Kinder im Stich lassen, andere verletzen, betrügen, beklauen, belügen: Bei allen anderen ist der Verstoß gegen eines der Zehn Gebote schnell erkannt. Besser, man ginge auch mit sich selbst so streng ins Gericht.

„Schuld“ bezeichnet nicht nur, was man anderen angetan hat. Man kann anderen auch etwas „schuldig“ bleiben: Geld, Dank, Respekt, eine Erklärung, den gebotenen Abstand während einer Pandemie – und dies aus der Perspektive dessen betrachten, dem man es schuldig bleibt. Auch Gott können Menschen etwas schuldig bleiben: die geforderte Feindesliebe, den Verzicht auf Vergeltung, überhaupt den Verzicht darauf, andere zu richten.

Den meisten Opfern tut es gut, wenn Täter sagen: „Ich bin schuld. Ich bitte um Entschuldigung.“ Daher fordert die kirchliche Bußlehre von Sündern echte Reue. Täter, die ihre Opfer um Entschuldigung bitten, machen sich von ihnen abhängig. Ihre Opfer können frei entscheiden, ob sie die Schuld vergeben. Wer gelernt hat, diese Abhängigkeit auszuhalten, erträgt sich auch eher selbst, so wie er ist. Eher als jene, die ihr Unrecht lieber verdrängen.

Mit maßlosem Konsum macht sich die wohlhabendere Hälfte der Menschheit auch schuldig, nämlich an jenen, denen sie die Ressourcen zum Leben entzieht. Eine bittere Wahrheit. Es fällt leichter, diese Wahrheit zu ertragen, um dann nach Auswegen zu suchen, wenn man sich damit jemandem anvertrauen kann. Wenn man einen Adressaten weiß, den man um Vergebung bitten kann – Gott.

Burkhard Weitz
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de