Müssen Christen Spenden?

Symbolbild: Bibel

Klingt das verdächtig oder verlockend? „Spende Geld, Gott wird es dir hundertfach zurückzahlen.“ Fernsehprediger zum Beispiel versprechen genau das. Besonders in den USA gibt es viele von ihnen. Televangelists predigen, dass ihr Reichtum ein Zeichen ihres Glaubens ist. Zeichen dafür, dass Gott auf ihrer Seite steht. Ihre Botschaft: Die Zuschauer müssten nur selbst fest glauben, um reich zu werden. Aber das ist ein Trick: Die Zuschauer sollen ihren Glauben beweisen, indem sie an die Kirche des Predigers spenden. Die Masche ist nicht neu, aber breitet sich weltweit immer weiter aus. Vor allem ärmere Menschen hören darin die Möglichkeit, ihrer Armut zu entfliehen.

Ist Spenden also in jedem Fall gut? Nein – wie man an vielen Beispielen sieht. Vorsicht ist geboten, wenn der Aufruf zu spenden mit Druck und Versprechungen für das Heil des Spenders oder der Spenderin verbunden ist. Damit reihen sich die „Wohlstandsprediger“ übrigens problemlos in die Geschichte ein. Christen wurden verpflichtet, „Gute Werke“ zu tun. Wer das nicht schaffte, dem drohte die Kirche im Mittelalter mit der Hölle – es sei denn, es wurde gezahlt. Martin Luther litt unter dieser päpstlichen Drohung. Es ist sogar die Urszene der Reformation: Luther, der sich quält und verzweifelt, weil er es nicht schafft, ein ganz und gar guter Mensch zu sein – alle notwendigen „Guten Werke“ zu tun. Mit diesem Versprechen der mittel­alterlichen Kirche konnte Luther sich nicht anfreunden. Ist Gott wirklich so ein unbarmherziger Richter, fragte er sich. Muss ich in die Hölle, weil ich die geforderten Werke nicht erfüllen kann? Nein. Gott ist vielmehr liebender Vater. Das muss ich glauben, es ist das einzige „Werk“, das Gott fordert. Nicht durch Taten und nicht durch Spenden kann sich der Mensch Gottes ­Ansehen verdienen, es zählt nur der Glaube – das wurde zum Grundgedanken des Protestantismus. Natürlich hat man Luther vorgeworfen, er würde die Menschen von der Verantwortung lossprechen, diese Welt besser zu machen. So wollte er nicht verstanden werden: „Gute Werke“ tun ist für einen Gläubigen selbstverständlich. Wer allerdings die „Guten Werke“ für sich selbst, für sein „Seelenheil“, tut, der geht fehl.

Kein Christ muss spenden, schon gar nicht an eine Organisation, die im Gegenzug das irdische oder jenseitige Heil für den Spender oder die Spenderin verspricht. Es gilt aber auch: Wenn der eigene Glauben nicht dazu führt, „Gute Werke“ zu tun, Menschen in Not auch finanziell beizustehen, dann sollte man sich fragen, woran das liegt, und vielleicht noch einmal bei Luther nachlesen.

Konstantin Sacher
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der Evangelischen Kirche. www.chrismon.de

Dürfen Christen hassen?

Symbolbild: Bibel

„Wir wissen, wo du wohnst, und werden dich töten!“ Solche Nachrichten werden im Internet täglich vielfach verschickt. Sie werden Hatespeech (Hassrede) genannt. Aber nicht nur im Internet scheint Hass derzeit Konjunktur zu haben. In Medien, in Klassenzimmern oder auf Demos: Judenhass, Hass auf Politiker, Schwulenhass oder Hass auf Klimaaktivisten – die Formen sind vielfältig. Hass entsteht langsam, bleibt lange und führt nie zu etwas Gutem. Hass ist das Gegenteil von Liebe. Wie ist es im Christentum? Schon im Alten Testament steht: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Die Antwort auf unsere Frage scheint also nahezuliegen: Ein Christ hat zu lieben und darf nicht hassen. Aber so einfach ist es nicht, denn Hass ist als Emotion etwas, was sich nicht verhindern lässt. Wie Menschen sich verlieben, ob sie wollen oder nicht, so können sie sich auch „verhassen“ – wie es der spanische Philosoph José Ortega y Gasset einmal gesagt hat. Es wäre also unmenschlich, einem Christen das Hassen zu verbieten. Trotzdem steht der Hass dem christlichen Grundgebot der Nächstenliebe entgegen. Christen sollten sich dem Hass also nicht hingeben – falls er aufkommt. Hass als verboten zu brandmarken, macht es aber nur schlimmer. Hass ist eigentlich gesellschaftlich tabuisiert. Doch ist das Erkennen und Verstehen die einzige Möglichkeit, Hass zu beseitigen. Und das ist dringend notwendig, denn Hass ist tatsächlich gefährlich.

Hass richtet sich nicht auf eine Eigenschaft des Gegenübers, sondern auf das Hassobjekt als Ganzes. Jemanden zu hassen bedeutet, ihn zerstören zu wollen.

Jesus hat die Nächstenliebe erweitert: „Liebt eure Feinde“, sagt er sogar. Was für eine Zumutung! Und trotzdem steckt hier ein wichtiger Hinweis darauf, wie mit Hass umzugehen ist. Als die alttestamentlichen Könige David und Saul sich bekriegen und umzubringen versuchen, bekommt David die Möglichkeit, Saul aus dem Hinterhalt zu töten. Saul ist in eine Höhle gegangen, um sich zu erleichtern – ein urmenschliches Bedürfnis. David schleicht sich an, tötet Saul dann aber nicht – in diesem merkwürdigen Moment in der Höhle wird aus dem Feind ein Mitmensch. David tritt vor Saul und erzählt ihm, dass er die Chance hatte, ihn zu töten. Daraufhin lässt auch Saul sein Schwert fallen. Dazu gehört Mut, denn Saul hätte auch anders reagieren können. Die neue EU-Verordnung DAS (Digital Services Act) richtet sich nicht umsonst gegen Hass im Internet. Hier ist es einfacher, die Empathie auszuschalten, den anderen nicht als Mitmenschen zu sehen und so hassen zu können. Gut, dass die Politik dagegen vorgeht. Ein christlicher Blick fügt aber hinzu, dass auch die Hassenden Menschen sind, die es zu lieben gilt. Jeder Mensch hasst einmal, nur mit Empathie und Verzeihen – wie in der Geschichte von David und Saul – kann die Spirale des Hasses gebrochen werden.

Konstantin Sacher
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der Evangelischen Kirche. www.chrismon.de

… und schenke Dir Frieden

Symbolbild: Bibel

Über vieles aus der Welt der Religion kann man sich streiten. Mit einem allgemeinen Wohlwollen aber kann man rechnen, wenn das Gespräch auf den Segen kommt. Selbst diejenigen, die ihn für wirkungslos halten, sehen nichts Schädliches in ihm. Anderen ist er das Liebste am Glauben. In der Tat, ein christlicher Gottesdienst ohne den Segen zum Ende ist nicht denkbar. Diese Worte zeigen am eindrücklichsten, was der Segen in christlichem und jüdischem Verständnis bedeutet. Sie werden in der Bibel Aaron, Moses Bruder, zugeschrieben, dürften aber uraltes Traditionsgut sein. Sie lauten:

„Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden“ (4. Mose 6,24–26).

Im Segen geht es um Schutz und Bewahrung vor Unglücksfällen, dann aber in einem viel umfassenderen Sinne um ein Leben im Frieden. In evangelischen Gottesdiensten spenden hauptsächlich Pastorinnen und Pastoren den Segen. Das Segnen ist aber keine heilige Handlung, die nur von sogenannten Geistlichen vollzogen werden dürfte. Es ist schlicht eine besondere Form des Gebets. Deshalb ist es falsch zu sagen, eine Amtsperson würde den Segen „spenden“. Vielmehr bittet sie Gott darum, dass er seinen Segen spende. Dies können im Prinzip alle tun. So wie jeder Christ selbst beten kann, kann auch jeder Christ andere segnen. Mit Aarons oder ­eigenen Worten, mit gefalteten Händen oder einer Geste: zum Beispiel, indem man eine Hand auflegt oder mit dem Finger ein Kreuz auf die Stirn zeichnet. In Deutschland ist man das nicht mehr gewohnt. Deshalb muss man dazu ein bisschen Mut aufbringen und es einüben. ­Natürlich sollte es nur im Einvernehmen geschehen. Dann aber kann es sehr schön, tröstlich und ermutigend sein – für die, die gesegnet werden, und für die, die segnen. Aber es hat eine eigene Kraft, wenn man es anderen zuspricht. In den ersten Kapiteln des Alten Testaments finden sich Geschichten, die ein vertieftes Verständnis des Segens eröffnen. Zum Beispiel über Abraham: Er war 75 Jahre alt, als Gott zu ihm sprach. Er solle seine Heimat verlassen und fortziehen in ein Land, das er nicht kannte, das Gott aber für ihn und ­seine Nachfahren ausersehen hatte. Dabei hatten Abraham und seine Frau Sarah gar keine Kinder. Gott rief ihn auf, gegen alle Vernunft in eine offene Zukunft zu gehen – und gab ihm ­diesen ­Segen mit auf den Weg:

„Ich will dich ­segnen, und du sollst ein Segen sein“ (1. Mose 12,2).

Einen Segen behält man also nicht für sich, sondern gibt ihn weiter. Abraham und Sarah wurden die Stammeltern des Judentums, des Christentums und des Islams.

Johann Hinrich Claussen
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de

Ist Religion zu politisch?

Symbolbild: Bibel

„Welt“-Chefredakteur Ulf Poschardt übt Kritik an der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Sie lautet: Die Kirche rede nicht mehr über Glauben, Gott oder was nach dem Sterben kommt. Stattdessen ständig über Politik. „Die EKD ist längst nicht mehr bunt. Sie ist grün“, schrieb er. Mit dieser Kritik ist er nicht allein. Die Kritik am Eintreten für Flüchtlinge und Klima kommt oft von konservativeren Medien oder traditionelleren kirchlichen Kreisen; keine Kritik von dieser Seite dagegen am ebenfalls politischen Engagement der Kirchen in bioethischen Fragen. Beim Thema Schwangerschaftsabbruch oder assistierter Suizid, wo die Kirchen eher konservative Positionen vertreten, darf sie ruhig politisch sein. Kritik durch Kirchenmitglieder, die Parteien und Positionen nahestehen, ist natürlich berechtigt. Die Evangelische Kirche mag sich theologisch zwar als Gemeinschaft der Heiligen verstehen. Aber weltlich, als Institution, ist sie eine Art Verein und lebt von ihren Mitgliedern. Die Aussage „Die Kirche sollte nicht so politisch sein“ führt in die Irre. Politisches Handeln zielt auf die Gestaltung unseres Zusammenlebens. Auch eine Kirche, die sich ausschließlich auf so traditionelle kirchliche Aufgaben wie Seelsorge, Gottesdienst und religiöse Bildung beschränkt, handelt politisch.

Martin Luther hat zur Zeit der Bauernkriege die Obrigkeit aufgefordert, die Ordnung wiederherzustellen und die aufständischen Bauern zu töten. Die Bauern waren auch durch Kirchenmänner wie Thomas Müntzer zum Aufstand aufgerufen worden. Er wollte das politische System seiner Zeit umgestalten, Luther nicht. Wenn nun Müntzers Theologie als politisch verstanden wird und Luthers Aufforderung an die Fürsten, die Aufstände zu unterdrücken, als unpolitisch, ist das falsch. Denn genau dieser Aufruf ist natürlich ein politischer Akt gewesen. Luther hat sich, in heutigem Sprachgebrauch, als Konservativer geoutet, der die geltende Ordnung bewahren wollte. Das Christentum hat seit seiner Entstehung etwas Machtkritisches an sich. Jesus selbst war ein Outsider, sein Handeln gegen die herrschenden Verhältnisse gerichtet. Somit ist dieser Streit um die politische Ausrichtung der Kirche beinahe zwingend, seitdem das Christentum im 4. Jahrhundert Staatskirche geworden und damit auf die Seite der Macht gewechselt ist. Das zeigt sich auch in den gegenwärtigen Debatten. Die Aktionen der Letzten Generation oder von United 4 Rescue richten sich gegen die herrschende Macht. Sie passen daher gut zu den machtkritischen Anteilen des Christentums. Aber auch die konservative Haltung, die sich in den Aussagen Poschardts und Leserbriefe ausdrückt, passt gut zum protestantischen Christentum, das eben historisch gesehen lange eher traditionell war. Nur: Unpolitisch ist keine von beiden Haltungen. Dass im Protestantismus Konservative und Progressive um die öffentliche Wahrnehmung der Kirche streiten, ist gut protestantisch und zeigt, dass Kirche allen Unkenrufen zum Trotz nicht egal ist.

Konstantin Sacher
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de

Platz für Hoffnung

Symbolbild: Bibel

„Kann ich trotz der ganzen Katastrophen glauben?“ Die Antwort auf unsere Frage finden wir am Frankfurter Flughafen. Es gibt dort eine Art Haftanstalt, wohin unter anderem Menschen gebracht werden, die hier ohne gültige Papiere landen. In einem Schnellverfahren wird entschieden, ob der Asylantrag Chancen hat und der Mensch nach Deutschland einreisen darf. In vielen Fällen ist die Antwort: nein. So ging es auch Frau Dube, die eigentlich anders heißt. Ihre Geschichte ist wahr, aber anonymisiert.

Ein paar Tage nach der Entscheidung sah ein Mitarbeiter Frau Dube. Sie lächelte. In so einer Situation lächeln zu können, das sei bewundernswert. Sie habe wirklich Kraft. Sie sagte in Anlehnung an ein Jesuswort: „Gott kümmert sich um uns. Wenn er sich um die Vögel am Himmel und die Blumen auf der Erde kümmern kann, warum dann nicht auch um uns.“ Frau Dube konnte trotz der Katastrophen in ihrem Leben glauben. Glauben entsteht nicht, weil es einem Menschen so gut geht oder weil die Welt so paradiesisch wäre. Im Gegenteil wirkt Glauben oft dann besonders stark, wenn alles schlecht und bedrohlich ist. Glauben ist trotzig.

Auch die Jüngerinnen und Jünger Jesu waren trotzig. Jesu Tod am Kreuz hat sie nicht endgültig abgeschreckt. Sie haben trotzdem geglaubt. Gut, er ist ihnen als Auferstandener erschienen. Aber wie lesen wir diese Geschichten heute? Wir Menschen haben die Fähigkeit, trotz aller Katastrophen zu glauben. Die Jünger und Jüngerinnen waren erst einmal in sich zusammengebrochen, doch sie gaben nicht auf und ließen den Tod nicht das Ende sein. Jesus war tot und ist es bis heute. Die Christen nennen ihn den Auferstandenen, trotzdem.

Warum manche glauben und andere nicht, ist ein Geheimnis. Traditionell finden Menschen durch Verkündigung (Predigt) und Sakramente (Taufe und Abendmahl) zum Glauben. Aber auch ohne die Kirche können wir Menschen daran arbeiten, dass andere glauben. Es ist wie bei der Erziehung von Kindern: Vorleben führt zu Nachahmung, Geborgenheit führt zu Zutrauen in die Welt.

Dass wir Menschen so etwas wie Glauben empfinden können, ist ein evolutionärer Vorteil. Wie sonst sollten wir uns motivieren, immer wieder aufzustehen? Katastrophen sind allgegenwärtig. Auch ein glückliches Leben endet in der Katastrophe des Todes, führt dazu, dass wir irgendwann nicht mehr aufstehen können. Es ist nicht nur möglich, trotz Katastrophen zu glauben, sondern auch nötig. Ansonsten lassen wir der Katastrophe das letzte Wort.

Konstantin Sacher
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de

Wie kann Glaube trösten?

Symbolbild: Bibel

Wenn man Schlimmes erlebt hat, dauert es, bis man wieder auf die Füße kommt. Was man da nicht braucht, sind fromme Sprüche und falsche Versprechen. Not lehrt nicht automatisch beten, sondern oft fluchen oder verstummen. Wenn es schier unerträglich geworden ist, wird nicht selten nach einem Tröster gerufen, der mit einem mächtigen Wort die Angst vertreibt und Hoffnung schenkt. Doch aus guten Gründen hat sich die christliche Seelsorge vor Jahrzehnten von solch einem autoritären Verständnis verabschiedet.

Den Theologen ist klar geworden: Trösten ist weniger eine Sache des Zusprechens als des Zuhörens, des Dabeiseins und Dabeibleibens. Trost zu finden kann bedeuten, dass man das Unvermeidliche annimmt. In der Not geraten viele Menschen ins Straucheln und verlieren ihre Kraft und Initiative. Trösten kann man jemanden in solch einer Lage nur, wenn man sich ihm ohne Vorbehalte zuwendet, seine Not wahrnimmt, sie ernst nimmt, sie auch klar und realistisch anschaut. Trost zu finden muss nicht heißen, sofort wieder festen Halt zu spüren. Es kann auch bedeuten, dass man das Unvermeidliche annimmt und sich ihm ergibt.

„Ergebung“ ist ein wichtiges Wort in der christlichen Tradition. Wenn ich mich „ergebe“, bin ich in meiner Not angekommen, erkenne ich meine Lage, halte ich mich nicht für stärker, als ich bin, werde ich bereit, nach einem neuen Weg zu suchen. Doch diesen zu finden, dauert seine Zeit. Deshalb gehört neben der Ergebung auch die Geduld zu einem echten Trost. Man muss warten und ausharren, manchmal sehr lange. Das macht das Trösten in einer Zeit, die auf Schnelligkeit und Effizienz ausgerichtet ist, so schwer. Wer getröstet ist, hat sich selbst wiedergefunden. Dafür muss man nicht gläubig sein. Aber die Sprache der Bibel und die christliche Bilderwelt stellen Worte bereit, die die eigene Angst und die eigenen Schmerzen fassbar machen, sie mitteilbar machen.

Und wer Worte für die eigene Not hat, kann sie mit anderen teilen. Biblische Metaphern sind poetisch und damit offen. Es sind kollektive Bilder, ein geteilter Schatz an Erfahrungen und Erzählungen. Ihre Kraft entfalten sie am ehesten, wenn man sie miteinander teilt, im Gespräch mit der Pfarrerin oder dem Pfarrer, im Gottesdienst, manchmal auch im privaten Gespräch. Und es kann sich etwas entwickeln, an dessen Ende keiner recht zu sagen weiß, wer hier wem geholfen hat. Das nennt man dann Seelsorge.

Johann Hinrich Claussen
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de

Wozu sind Predigten da?

Symbolbild: Bibel

Es ginge ja auch ohne – So selbstverständlich ist es gar nicht, dass in der Mitte eines Gottesdienstes eine Person in einem Talar auf eine Kanzel steigt und vor der Gemeinde eine Rede hält. Andere Religionen wie Hinduismus und Buddhismus kommen ohne so etwas aus und stellen Ritus und Meditation in den Mittelpunkt. Auch bei den orthodoxen Kirchen des Ostens und Südostens geht es im Gottesdienst vor allem um die Liturgie. Es ist eine Eigentümlichkeit vor allem der Kirchen, die aus den Reformationen des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind, dass sie die Predigt ins Zentrum rücken. Martin Luther hatte erklärt, dass der Glaube aus dem Hören komme.

Damit ein Mensch zum christlichen Glauben findet, muss er die Botschaft der Bibel kennenlernen. Da sich ihr Sinn nicht automatisch erschließt, muss sie ausgelegt werden. Dabei geht es um mehr als bloße Bibelkunde. Die Botschaft eines biblischen Textes soll die Hörenden hier und jetzt erreichen, ein Licht auf ihr persönliches Leben werfen. Das kann kein Unterricht, kein Buch leisten.

Dafür muss man einem anderen Menschen zuhören, der den Sinn eines biblischen Textes mit Blick auf das, was Menschen heute umtreibt, verständlich macht – und dies in einer ansprechenden Sprache, als Teil eines gottesdienstlichen Ganzen mit Musik, Gebet und Stille. Das ist die Aufgabe und die Chance einer Predigt, dass sie einem den Glauben so nahebringt, dass man ihn sich aneignen kann. Doch ist es gar nicht einfach zu sagen, was eine gute Predigt ausmacht. Leichter ist es aufzuzählen, wie man es nicht machen sollte. Indem man zum Beispiel abstrakte theologische Lehren verbreitet oder moralisierende Leitartikel über die Weltpolitik vorliest.

Viel hängt dabei von dem Charakter und der Lebensgeschichte derer ab, die auf der Kanzel stehen. Das führt zu den zwei Hauptanliegen der auf­geklärten Predigt: Lebensweisheit und Empfindsamkeit. Was eine gute Predigt ist, hängt also wesentlich davon ab, was die Predigenden für das Dringlichste halten und was die Predigt­hörenden zu einer bestimmten Zeit vor allem brauchen: Trost oder Zuspruch, Ermutigung oder Empörung oder heilsames Erschrecken.

Angesichts der unüberschaubaren Vielfalt religiösen Redens ist es besonders sinnvoll, sich an die Urszene des christlichen Predigens und Predigthörens zu erinnern. Als nämlich die Hirten die Botschaft der Engel gehört und das neugeborene Kind in der Krippe gesehen hatten, „breiteten sie das Wort aus“. Und alle, die ihre ­Predigten hörten, wunderten sich.

Johann Hinrich Claussen
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de

Gott wendet sich allen zu

Symbolbild: Bibel

Für viele Menschen ist eine traditionelle kirchliche Bestattung der würdevollste Rahmen für den Abschied von einem geliebten Menschen. Doch weil die Zahl der Kirchenaustritte seit Jahren auf hohem Niveau liegt, steigt auch die Zahl derer, die zwar kirchlich geprägt, aber eben konfessionslos sind – und deren Angehörige gleichwohl religiösen Trost erhoffen.

Eine kirchliche Bestattung ist aber nicht einfach eine Wahlleistung, die Angehörige beim Bestatter nach Gutdünken „zubuchen“ können. Es geht bei einer Bestattung vor allem um den Trost für die Angehörigen. Deshalb ist es letztlich in die Verantwortung der Pfarrerin, des Pfarrers gestellt, ihrer Bitte um eine kirchliche Bestattung zu folgen.

Den Ausschlag dafür könnte geben, dass der aus der Kirche Ausgetretene doch noch eine religiöse Bindung hatte. Ein anderer Grund könnten besonders dramatische Todes­umstände sein, die die Angehörigen tief in Trauer stürzen – etwa eine Gewalttat, ein böser Unfall, ein quälendes Sterben.

Wenn sich Angehörige Trost im christlichen Glauben erhoffen, dann muss eine Pfarrerin, ein Pfarrer schon massive Gründe haben, sich dieser Bitte zu verweigern. Es gehört zu ihrer wichtigsten Aufgabe, an das biblische Versprechen zu erinnern, dass sich Gott den Menschen ohne Ansehen ihrer Person und ihrer religiösen Verdienste zuwendet. Seelsorge an Trauernden und ein würdevoller Abschied vom Toten sind kein strenges Exklusivrecht für Kirchenmitglieder, sondern sollen auch anderen Trauernden offenstehen.

So heißt es zum Beispiel in den „Grund­linien kirchlichen Handelns“ der evangelischen Nordkirche von 2020: „Ein Gottesdienst anlässlich einer Bestattung kann auf Wunsch trauernder Gemeindeglieder als Ausdruck der Seelsorge und Anteilnahme stattfinden – auch dann, wenn die verstorbene Person selbst nicht Mitglied einer Kirche war.“ Aber auch in einem solchen Fall wird die Rede sein von der christlichen Auferstehungshoffnung.

Und was kostet eine Trauerfeier? Auch wenn Pfarrer oder Kirchengemeinde es weder einfordern noch erwarten: Für die kirchliche Bestattung eines Ausgetretenen, der sich Jahre, wenn nicht Jahrzehnte die Kirchensteuer sparte, ist eine finanzielle Anerkennung nicht falsch. Solidarität und Gemeinschaft sind keine Einbahnstraße.
Denn hinter jedem Pfarrer, jeder Pfarrerin stehen eine Gemeinde und zahlreiche Sozialeinrichtungen, eine umfassende Infrastruktur, die Gemeinschaft der Kirchensteuerzahler. Sie alle verdienen Respekt und Anerkennung.


Eduard Kopp
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de

Soll man sich schuldig fühlen?

Symbolbild: Bibel


Schuldige findet man schnell – für alles Mögliche: Die Religionen und ihre Vertreter sollen schuld sein an Krieg und Gewalt, Zuwanderer an der Ausländerfeindlichkeit und Juden am Antisemitismus. Schon seit alters erfinden Menschen für jede nur erdenkliche Störung die absurdesten Schuldzuweisungen. An der Infektion ist der Kranke schuld, weil er sich angeblich zu leichtsinnig verhielt. Oder die Chinesen oder die Hexen. Das 3. Buch Mose, Kapitel 14, fordert sogar, Schuld zu tilgen, wenn ein Haus von Schimmel befallen ist – wessen Schuld auch immer. Eine biblische Vorschrift aus einer uralten fremden Welt. Die Bibel dokumentiert aber auch, wie die Menschheit die Schuldfrage einzuhegen versuchte: Strafe soll nur den treffen, der sich versündigt hat, fordert das 5. Buch Mose 24,16. Grundsätze wie dieser bestimmen bis heute das Recht.

Der erste Schritt zum Eingeständnis eigener Schuld ist die Bereitschaft, von sich auf andere zu schließen. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, sagt die goldene Regel. Die Eltern oder die eigenen Kinder im Stich lassen, andere verletzen, betrügen, beklauen, belügen: Bei allen anderen ist der Verstoß gegen eines der Zehn Gebote schnell erkannt. Besser, man ginge auch mit sich selbst so streng ins Gericht.

„Schuld“ bezeichnet nicht nur, was man anderen angetan hat. Man kann anderen auch etwas „schuldig“ bleiben: Geld, Dank, Respekt, eine Erklärung, den gebotenen Abstand während einer Pandemie – und dies aus der Perspektive dessen betrachten, dem man es schuldig bleibt. Auch Gott können Menschen etwas schuldig bleiben: die geforderte Feindesliebe, den Verzicht auf Vergeltung, überhaupt den Verzicht darauf, andere zu richten.

Den meisten Opfern tut es gut, wenn Täter sagen: „Ich bin schuld. Ich bitte um Entschuldigung.“ Daher fordert die kirchliche Bußlehre von Sündern echte Reue. Täter, die ihre Opfer um Entschuldigung bitten, machen sich von ihnen abhängig. Ihre Opfer können frei entscheiden, ob sie die Schuld vergeben. Wer gelernt hat, diese Abhängigkeit auszuhalten, erträgt sich auch eher selbst, so wie er ist. Eher als jene, die ihr Unrecht lieber verdrängen.

Mit maßlosem Konsum macht sich die wohlhabendere Hälfte der Menschheit auch schuldig, nämlich an jenen, denen sie die Ressourcen zum Leben entzieht. Eine bittere Wahrheit. Es fällt leichter, diese Wahrheit zu ertragen, um dann nach Auswegen zu suchen, wenn man sich damit jemandem anvertrauen kann. Wenn man einen Adressaten weiß, den man um Vergebung bitten kann – Gott.

Burkhard Weitz
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de

Ist Gott zu allen Zeiten gleich?

Symbolbild: Bibel


Im Jahr 1938 hatte die evangelische Kirche eine besondere Losung: „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“ – ein Bibelvers aus dem Brief an die Hebräer (13,8). Der Vers sollte in dieser historischen Lage den Glauben stärken und die unverrückbare Geltung der christlichen Botschaft betonen: das Vertrauen in die universelle Liebe und Güte Gottes, die der Jude Jesus aus Nazareth gelehrt und vorgelebt hatte. Vom 9. auf den 10. November 1938 setzten Nazitrupps Synagogen und jüdische Versammlungsräume sowie Tausende Geschäfte jüdischer Besitzer in Brand, verwüsteten jüdische Friedhöfe. Sie misshandelten Jüdinnen und Juden, ließen sie verhaften oder gar töten. Die Reaktionen aus den Kirchen waren kläglich: Statt eines weltweit vernehmbaren Aufschreis waren nur vereinzelte, verhaltene Proteste zu hören.

Jesus Christus sei Ebenbild des unsichtbaren Gottes, heißt es in der Bibel (Kolosser 1,15). Wer von Jesus auf Gott zurückschließt, kann Gott nicht auf bestimmte Eigenschaften festlegen, Gott bleibt unsichtbar. Man erkennt aber die Haltung: Auch Gott ist und bleibt den Menschen zugewandt, auch Gott schont sich selbst nicht in seiner Liebe zu ihnen.

Doch der Gott, an den unsere Vorfahren glaubten, machte die Herrschenden stark und die Untertanen schwach. Er zog mit dem Kaiser in den Ersten Weltkrieg. „Gott mit uns“ stand auf preußischen Koppelschlössern. Man glaubte an einen Gott, der nur dem eigenen Volk zugewandt war. Das Gottesbild klammerte jenen Christus aus, der vorbehaltlos alle Menschen annahm, nicht nur Angehörige seines Volkes; der auch Feinde zu lieben lehrte. „ … gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“: Nicht starres Prinzipiendenken und Besserwisserei sprechen daraus, sondern Vertrauen in die Zukunft und Gelassenheit. Ulrich Fischer (1949–2020), evangelischer Theologieprofessor und badischer Bischof, beschrieb es so: „So wie Jesus Christus damals die Menschen geliebt hat, so liebt er uns heute. So wie er damals vergeben hat, so vergibt er heute. So wie er damals … neue Dimensionen des Lebens eröffnet hat, so tut er dies heute.“

Die Gottesvorstellungen der Menschen unterscheiden sich sehr, so wie sich auch die Hoffnungen der Menschen unterscheiden. Krebskranke hoffen, den Krebs zu besiegen. Politische Gefangene erhoffen sich Freiheit. Gewaltopfer, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt. Queere Menschen, dass sie genauso respektiert werden wie alle anderen. Aber gemein ist ihnen: Sie können auf diesen immer ansprechbaren, immer zuverlässigen Gott setzen.

Eduard Kopp
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de