Es ginge ja auch ohne – So selbstverständlich ist es gar nicht, dass in der Mitte eines Gottesdienstes eine Person in einem Talar auf eine Kanzel steigt und vor der Gemeinde eine Rede hält. Andere Religionen wie Hinduismus und Buddhismus kommen ohne so etwas aus und stellen Ritus und Meditation in den Mittelpunkt. Auch bei den orthodoxen Kirchen des Ostens und Südostens geht es im Gottesdienst vor allem um die Liturgie. Es ist eine Eigentümlichkeit vor allem der Kirchen, die aus den Reformationen des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind, dass sie die Predigt ins Zentrum rücken. Martin Luther hatte erklärt, dass der Glaube aus dem Hören komme.
Damit ein Mensch zum christlichen Glauben findet, muss er die Botschaft der Bibel kennenlernen. Da sich ihr Sinn nicht automatisch erschließt, muss sie ausgelegt werden. Dabei geht es um mehr als bloße Bibelkunde. Die Botschaft eines biblischen Textes soll die Hörenden hier und jetzt erreichen, ein Licht auf ihr persönliches Leben werfen. Das kann kein Unterricht, kein Buch leisten.
Dafür muss man einem anderen Menschen zuhören, der den Sinn eines biblischen Textes mit Blick auf das, was Menschen heute umtreibt, verständlich macht – und dies in einer ansprechenden Sprache, als Teil eines gottesdienstlichen Ganzen mit Musik, Gebet und Stille. Das ist die Aufgabe und die Chance einer Predigt, dass sie einem den Glauben so nahebringt, dass man ihn sich aneignen kann. Doch ist es gar nicht einfach zu sagen, was eine gute Predigt ausmacht. Leichter ist es aufzuzählen, wie man es nicht machen sollte. Indem man zum Beispiel abstrakte theologische Lehren verbreitet oder moralisierende Leitartikel über die Weltpolitik vorliest.
Viel hängt dabei von dem Charakter und der Lebensgeschichte derer ab, die auf der Kanzel stehen. Das führt zu den zwei Hauptanliegen der aufgeklärten Predigt: Lebensweisheit und Empfindsamkeit. Was eine gute Predigt ist, hängt also wesentlich davon ab, was die Predigenden für das Dringlichste halten und was die Predigthörenden zu einer bestimmten Zeit vor allem brauchen: Trost oder Zuspruch, Ermutigung oder Empörung oder heilsames Erschrecken.
Angesichts der unüberschaubaren Vielfalt religiösen Redens ist es besonders sinnvoll, sich an die Urszene des christlichen Predigens und Predigthörens zu erinnern. Als nämlich die Hirten die Botschaft der Engel gehört und das neugeborene Kind in der Krippe gesehen hatten, „breiteten sie das Wort aus“. Und alle, die ihre Predigten hörten, wunderten sich.
Johann Hinrich Claussen
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de