Geldgier, Heimtücke, Falschheit, Verrat: Was hat man dem Judas alles nachgesagt! Der Judaskuss wurde sprichwörtlich: Der Verräter wirft sich Jesus an den Hals, heuchelt ein letztes Mal Zuneigung – ein Gefühl, zu dem er gar nicht fähig ist. Dabei hat er die feindlichen Schergen selbst hergeführt. Für ein paar Silberlinge händigt er den friedlichsten aller Menschen den Mördern aus. Mittelalterliche Darstellungen lassen ihn den Verzweiflungstod am Galgen sterben. Die Gedärme quellen heraus, der Teufel holt sich die verdammte Seele. „Du Judas“, die Floskel hat sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, selbst bei Menschen, die nicht mal die Geschichte dazu kennen. Antisemiten nutzen die Namensähnlichkeit, um die vermeintliche Geldgier, Heimtücke und Falschheit auf alle Juden zu projizieren. Eine fatale Lüge!
Der wahre Kern? Schon die früheste Christenheit erinnerte in ihren Abendmahlsworten an die „Nacht, in der er (Jesus) verraten wurde“ (1. Korinther 11,23). Das griechische Wort paredídeto heißt wörtlich übersetzt: „Er wurde übergeben, ausgeliefert.“ Wer was genau tat und warum, bleibt offen. Erst später, mehr als 40 Jahre nach Jesu Tod, begann man, die Figur des Judas auszuschmücken. Der Evangelist Johannes (12,6) denunzierte Judas als Dieb. Und der Evangelist Matthäus (26,24) ließ Jesus sogar schimpfen: „Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.“
Zur Ehrenrettung des Judas spekulieren Bibelinterpreten heute: Judas habe Jesus als Revolutionär missverstanden; er habe einen Aufstand provozieren wollen und Jesus irrtümlich ausgeliefert. Fakt ist: Wir wissen nicht, was geschah. Wir wissen nur: Jemand aus dem Kreis der Vertrauten war an Jesu Auslieferung beteiligt – was die anderen gegen ihn einnahm.
Edward Snowden machte öffentlich, dass britische und US-Geheimdienste die öffentliche Kommunikation weltweit aufzeichnen. Snowden brach die Schweigeverpflichtung seiner Arbeitgeberin, der Firma Booz Allen Hamilton – für ein höheres Gut. Er warnte vor Unrecht. Anders als autokratische Regime schützen Demokratien Privatheit, oder sie sollten es tun. So gesehen war Snowdens „Verrat“ Aufklärung. In einem übertragenen Sinn blies er die Trillerpfeife, weshalb man ihn auch „Whistleblower“ nennt.
Judas bereute seine Tat, berichtet Matthäus 27,3. Er habe die Silberlinge zurückgebracht und gesagt: „Ich habe gesündigt, unschuldiges Blut habe ich ausgeliefert.“ Es sei nie zu spät, Fehler zu bereuen, hat Jesus gelehrt, man finde immer Gottes Gnade. Judas gewiss auch.
Burkhard Weitz
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der evangelischen Kirche. www.chrismon.de