Predigt zum 1. Sonntag n. d. Christfest

Von Pfarrer Dr. Matthias Dreher am 27.12.2020 in der Stephanuskirche in Gebersdorf


Und als die Tage ihrer [Marias] Reinigung nach dem Gesetz des Mose um waren, brachten sie ihn hinauf nach Jerusalem, um ihn [Jesus] dem Herrn darzustellen.

Und siehe, ein Mensch war in Jerusalem mit Namen Simeon; und dieser Mensch war gerecht und gottesfürchtig und wartete auf den Trost Israels, und der Heilige Geist war auf ihm. Und ihm war vom Heiligen Geist geweissagt worden, er sollte den Tod nicht sehen, er habe denn zuvor den Christus des Herrn gesehen. Und er kam vom Geist geführt in den Tempel. Und als die Eltern das Kind Jesus in den Tempel brachten, um mit ihm zu tun, wie es Brauch ist nach dem Gesetz, da nahm er ihn auf seine Arme und lobte Gott und sprach:

Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, das Heil, das du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.

Und sein Vater und seine Mutter wunderten sich über das, was von ihm gesagt wurde. Und Simeon segnete sie und sprach zu Maria, seiner Mutter: Siehe, dieser ist dazu bestimmt, dass viele in Israel fallen und viele aufstehen, und ist bestimmt zu einem Zeichen, dem widersprochen wird – und auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen –, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden.

Lukas 2, 22.25-35


Liebe Mitchristen hier in Gebersdorf, aus Großreuth und von weiter weg,

Weihnachten ist zum Sterben schön! Das meint jedenfalls der alte Simeon, der heute sicherlich in einer geriatrischen Demenz-Abteilung entmündigt eingesperrt wäre. Vom Heiligen Geist (Vogel zeigen) ist ihm versprochen, er werde erst sterben, wenn er den Trost Israels, den Gesalbten Gottes gesehen hat. – Oje, sagt da der gesunde Menschenverstand, jetzt hat’s auch den erwischt.

Dadurch, dass wir die gesamten Senioren ab 75 mit einem generellen Demenz-Verdacht überziehen, sind wir – scheint mir – kaum noch offen für die hellsichtigen Einsichten unserer Groß- und Urgroßeltern. Nicht dass es nicht auch gewisse Verschrobenheiten und gedankliche Fixierungen gäbe bei bestimmten Senioren, ich sag’s mal vorsichtig, aber solche Simeons, die auch uns heute die Wirklichkeit aufschließen und weiter sehen als die MittVierziger oder –Fünfziger, solche Simeons gibt es auch heute. Und ich persönlich bin froh, dass ich in meinen jüngst vergangenen dunkelsten Wochen solche weisen Senioren an meiner Seite hatte. Viele waren es nicht. Aber diese wenigen sind unverzichtbar.

Zur Ehre des Alters möchte ich Ihnen von einem 76-jährigen Mann erzählen, der im Sommer 1989 folgende Sätze aufschreibt: „Warum?, mit welchem Recht? und aufgrund welcher Erfahrung ausschließen, daß eines Tages [in der jetzigen DDR] … nicht Hunderte, sondern Hunderttausende auf den Beinen sind und ihre staatsbürgerlichen Rechte einfordern? (…) Und Berlin? Und die Mauer? Die Stadt wird leben!, und die Mauer wird fallen.“

Der Mann hieß Willy Brandt. Am 1. September 1989 – die Mauer steht noch immer – sagt er im Bundestag, es gehe jetzt um mehr, als „durch vielerlei kleine Schritte den Zusammenhalt der getrennten Familien und damit der Nation wahren zu helfen“. Für Brandt steht nun die „Selbstbestimmung und Einheit“ der Deutschen auf der Tagesordnung. Dann fällt die Mauer am 9. November. Tags darauf fliegt Brandt nach Berlin und formt sein geflügeltes Wort: Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört. Am 3. Oktober 1990 geht mit der Einheit Deutschlands der gemeinsame Traum der Bundeskanzler Kohl und Brandt in Erfüllung. Mit Tränen in den Augen verfolgt Brandt die Zeremonie auf der Ehrentribüne vor dem Reichstag – dem Tempel der deutschen Demokratie sozusagen. 1992 stirbt er.

Warum erzähle ich das? Die deutsche Einheit war kein Heilsereignis. Aber die Einstellung des alten Willy Brandt kann uns zeigen, dass wir nicht zu trennen brauchen: Hier sind diese seltsam irreal frommen Menschen in der Bibel – und dort sind die echten Menschen unseres Lebens und unserer Welt. Simeon und Brandt haben ja viel gemeinsam: Sie erwarten das Große, das Entscheidende von der Zukunft. Aber nicht am St.-Nimmerleins-Tag, sondern noch vor ihrem Tod. Sie sind keine Nostalgiker, sie leben voll auf die Zukunft zu, obwohl sie wissen, dass sie an dieser besseren Zukunft kaum noch teilhaben werden. Beide wissen: Es geht nicht nur um eine bessere Zukunft für mich und meine Familie. Es wird für alle besser werden. Simeon besingt mit dem Jesuskind auf dem Arm, wie das Kind Juden und Heiden, also alle Nicht-Juden zusammenführt. Und er schließt: Nun kann ich in Frieden abtreten.

Und weniger umfassend, aber doch auf dieser Spur lautet das geflügelte Wort Willy Brandts wörtlich: „Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört. Das gilt für Europa im Ganzen.“ Dieser Nach-Satz wird meist weggelassen. – Also ich will Brandt nicht zum kleinen Mit-Messias machen, ich möchte nur zeigen, dass dieser alte, fromme Simeon durchaus ganz bei Trost war bei seinem auf den ersten Blick verwunderlichen Ausbruch angesichts eines „normalen“ Babys im Tempel.

Gehen wir seinem kurzen Lobgesang nochmal genauer nach: Er kann in Frieden sterben, weil Gott erfüllt hat, was er versprochen hat. Darum hören wir ja an Weihnachten auch die Prophezeiungen aus dem Alten Testament. Denn auch wenn Gott im Neuen Testament mit Jesus Christus einen neuen Bund setzt, so ist Gott doch derselbe und zumindest im Rückblick lässt sich ein Plan erkennen. Gott hatte schon länger einen irgendwie gearteten Heilsbringer „in petto“ – und Simeon darf ihn jetzt sehen. „Requiescat in pace“ – jetzt kann er in Frieden ruhen.

Luthers Worte „Heil“ und „Heiland“ klingen für uns ja so bibeldeutsch, religiös-pathetisch und irgendwie lebensfern. Da müssen wir uns einfach immer klar machen, dass dahinter der Begriff Rettung, Retter steht. Bei Heiland denke ich an die berühmte, millionenfach kopierte Statue Jesu von Berthel Thorvaldsen in Kopenhagen: Der sanftautoritäre, segnende, rein-weiße Gottesmann. Bei „Rettung“ denke ich an die Blaulicht-Retter auf unseren Straßen. Eine ganz andere Welt. Dieses Herausziehen aus prekärer Not, das dachten aber die griechischen Schreiber des Neuen Testaments immer mit. Wenn Simeon vom Heil spricht, ist die Rede davon, dass die Welt im Argen liegt – und dass nicht irgendwann, sondern so schnell wie möglich Abhilfe kommt. Und Simeon weiß, dass der Mensch mit dieser Abhilfe überfordert wäre: Gott selbst muss sie uns bringen, er hat es versprochen und sein Wort nicht gebrochen. Das heißt aber auch, dass diese Rettung nicht mit politischen Mitteln zu erreichen ist; das wäre ja wieder Menschenwerk. Es geht nicht um menschliche Weltverbesserei. Es geht nicht um die Rettung der Welt, sondern um unsere Rettung aus der Welt.

Das weiß das ganze Neue Testament, dass diese Welt eben tickt, wie sie tickt und dass sich das kaum verändern lässt. Das Heil, das uns der Glaube verspricht, ist darum immer eine Ent-weltlichung – auch lange vor dem Tod. Paulus sagt es so:

„Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist“

Röm 12, 2

Die Kraft zu dieser Änderung kommt aus dem Bruch, den Jesus in die Welt brachte: Gottes Sohn ein Kind im Stall, ein Verdammter am Kreuz. Die Welt will andere Helden. Aber Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. Und sein Sohn verteilt selbst diese Kraft – in bloßen Worten, in einer schwächlichen Hostie und einem
Schluck Wein. Wie klein, ja kümmerlich empfängt er uns an der Krippe im Stall? Und doch – wieviel Kraft und inneres Licht haben Sie, liebe Mitchristen, nicht allein daraus schon empfangen? – Aber was heißt Rettung aus der Welt konkret? Was heißt es jetzt in Corona-Zeiten? Es gibt Christen, die glauben: Der Glaube – oder letztlich Gott – feit uns vor dem Virus. Wer richtig fest glaubt, bleibt ungefährdet. Die psychologische Variante dazu lautet: Die Angst steckt sich an. Wer keine Angst hat, kriegt es auch nicht. – Diese Ignoranz gegenüber medizinischen Einsichten hat mit der Entweltlichung des Glaubens nichts zu tun. Sondern diese meint die innere Beheimatung bei Gott. Und die bewirkt zwei Dinge: Einmal die Hoffnung für diese Welt, – dass wir Menschen getröstet und aufgerichtet werden durch die Kraft Gottes im Angesicht selbst unserer Feinde, zu denen auch das Virus gehört. – Und das zweite, was diese Gottes-Heimat bewirkt, ist die Gelassenheit dem hiesigen Leben gegenüber. – Beide Wirkungen dieser inneren Heimat sehen wir an Simeon: All sein Hoffen und Sehnen ist auf den Trost der Völker dieser Welt gerichtet. Aber er muss sich nicht darein verbeißen, diesen Frieden zu erreichen. Er lässt Gott wirken und tritt selbst ganz gelassen ab.

Beispielhaft auf Corona übertragen würde das heißen:
Hoffen, dass die Welt diese Geißel namens Corona bald los wird – und auch alles Menschen mögliche dafür tun – jeder an seinem Platz – so wie wir es gerade eben hier auch tun. Aber zweitens heißt es: Nicht die Welt retten wollen durch Corona-Maßnahmen. Nicht überspannt in Corona den Hebel sehen, um die Welt zu verbessern oder die Menschen zu erziehen. Sondern entspannt das Mögliche tun und warten, dass mit Gottes Kraft bald das Not-Wendende kommt. Dieses entspannte Warten in Gottvertrauen werden wir sicher noch einige Wochen brauchen.

Für uns nicht entscheidend, aber interessant ist, wie Simeon das Verhältnis zwischen Israel und den übrigen Völkern, also auch uns, bestimmt. Die Rettung ist bereitet vor allen Völkern: Sie ist Licht, das die Nicht-Juden aus der Finsternis führt und Licht-Glanz, Glorie, für Gottes Volk Israel. Die Besonderheit Israels besteht also nicht etwa darin – wie heute oft sogar in Kirche und Theologie gelehrt wird -, dass Israel über den alten Bund zum Heil kommt und Christus gar nicht braucht. Die Sonderstellung Israels wird gerade darin gewahrt, dass der Retter für alle, für Juden wie Nicht-Juden, ein jüdisches Kind ist, beschnitten und im Tempel Gott geweiht. An Simeon sehen wir, dass der Heilige Geist von einem so frommen, wahrhaftig-jüdischen Glauben aus eine Brücke bauen kann, im Jesuskind den Heiland, den Retter, den Messias des Alten Testaments zu erkennen. Und das tun wir ehemalige Heiden zusammen mit dem Juden Simeon.

Nachdem Simeon seinen berühmten Lobpreis gesprochen und die Familie Jesu gesegnet hat, hat er noch Worte extra an die Mutter Maria, die weit weniger bekannt sind:

„Siehe, dieser ist dazu bestimmt, dass viele in Israel fallen und viele aufstehen, und ist bestimmt zu einem Zeichen, dem widersprochen wird – und auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen –, damit aus vielen Herzen die Gedanken offenbar werden.“

Lukas 2, 34-35

Hier ist es spätestens Schluss mit der Weihnachtsidylle. Der holde Knabe im lockigen Haar wird also nicht nur Frieden, Liebe und Glück bringen, sondern er wird bewirken, dass das innerste der Menschen offenbar wird. Das kleine, „nackerte“ Christkind macht uns alle nackt – sogar unser Herz.

Dreimal kommen „die vielen“ vor: „Viele in Israel fallen und viele stehen auf; aus vielen Herzen wird offenbar, was da drin [Brust klopfen] eigentlich gedacht wird.“ Stünden diese Sätze im Johannesevangelium, wäre die Vorstellung die, dass der kindliche Offenbarer die Menschen rigoros teilt in Gläubige und Ungläubige. Die einen fallen, die anderen stehen auf zum ewigen Leben. – Hier aber, in dieser Rede des alttestamentlich-frommen Juden Simeon, dürfte es jüdischer gemeint sein. Dann nämlich sind „viele“ und „alle“ kaum zu unterscheiden. Er meint also: „Israel als ganzes wird fallen – und wieder aufstehen. Israel als ganzes wird deinem Kind, Maria, widersprechen – von Ausnahmen abgesehen – , sodass der Ungehorsam Israels offenbar wird. Dies wirst du miterleben und es wird dir wie ein Schwert durch die Seele fahren.“ Wie in einer Zeitraffer-Diashow laufen hier die Bilder so mancher Jesus- und Passions-Filme vor meinem inneren Auge ab. Jesu hartes Ringen mit den Schriftgelehrten und Pharisäern – und die Konsequenz am Kreuz.

Auch hier spricht Simeon Jesus nochmals speziell als Offenbarer und Heilsbringer der Juden an. Das heißt nicht, dass uns diese Worte nichts angehen. Auch uns gilt die Botschaft, zumal wir ja nun auch ‘ das schon 2000-jährige Gottesvolk des Neuen Bundes sind: Wenn uns Gott selbst besucht, um hier in dieser Welt zu unserem Heil einzugreifen; – wenn der einzige, wahre Gott sich auf ein Menschenleben auf Erden einlässt, dann bringt uns das kein Heil zum Billig-Tarif, dann bringt er nicht Wohlgefühl mit der Gießkanne. Gerade wenn er sich herabbeugt in ein kleines Windelkind und den höchsten Preis zu zahlen bereit ist, den man in dieser Welt zahlen kann – sein Leben. Gerade dann bleibt Gott auch der Gerechte, der seinem Willen treu bleibt, – und der also auch richtet. Wer Gott begegnet, kann fallen, – und es sind viele, die fallen. Das auf die Juden abzuschieben, war immer schon schäbig. So wie Simeon sein Volk anspricht, so müssen wir es auf uns beziehen. Gott besucht uns aus Gnade. Aber wer verkennt, dass nur ein Richter Gnade walten lassen kann, der macht aus Gnade – Kitsch. Das Paket „Gnade“ bringt immer das Gericht mit – deshalb fallen viele. Die Gnade verhindert auch nicht das Urteil, sondern „nur“ die letzte Konsequenz des ewigen Todes.

Deshalb stehen die Vielen dann auch wieder auf und können versöhnt von und mit und bei Gott weiterleben – in Ewigkeit. So sieht es auch Paulus für das Volk Israel und ist sich mit dem Simeon des Lukas einig: Dies alles wird geschehen im Glauben an Christus (Röm 11). Und genauso gilt es uns. – In diesem ganzen Prozess – das ist hier das richtige Wort – wird deutlich, wo jemand steht, wie jemand denkt, wie wir unsere Prioritäten setzen, wie wir letztlich das Verhältnis bestimmen zwischen unserem Ego – und Gott.

Das mitanzusehen wird die Mutter hart ankommen. Aber all dies ist notwendig, damit Heil, Rettung und Trost sein können, ohne dass etwas unter einen billigen Teppich gekehrt wird. Um Rettung und Trost geht es. Das ist das, was Simeon in Frieden scheiden lässt. Dafür, dazu hat Gott das Kindlein in die Welt geschickt.
[Tonwechsel: leicht] Zja – und schon Willy Brandt hat erzählt, dass der Stellvertreter Christi seinem Chef da in nichts nachsteht: „Auf dem SPD-Parteitag wird angekündigt, dass der Papst seine nächste Reise zur SPD mache. – Warum? – Weil er immer dorthin fährt, wo das Elend am größten ist.“

Und so können auch wir gelassen und heiter einstimmen: Herr, nun lässt du uns, deine Diener in dieser verlorenen Welt, früher oder später in Frieden scheiden. „Welt ging verloren; Christ ist geboren. Freue, freue dich, du Christenheit!“.

Amen.

Dr. Matthias Dreher, Pfarrer