Ist Jesus für uns gestorben?

Symbolbild: Bibel


Von Anfang an verstanden Christen den Tod Jesu als Selbstopfer für andere. Die Bibel steigert das Motiv der Hingabe ins Mythische: Jesus habe ein Lösegeld bezahlt, um die Gläubigen freizukaufen, schrieb Paulus (1. Korinther 6,20). Jesus trage die Schuld der ganzen Welt, soll Johannes der Täufer gesagt haben (Johannes 1,29): „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt“, singen Christen heute noch beim Abendmahl: „Erbarm dich unser.“ Eine schwierige Vorstellung, an deren Erklärung viele Theologen gescheitert sind.

Manche sagen: Ein gnädiger und gerechter Gott dürfe nicht alle Schuld ungesühnt lassen. Er müsse eine Sühne verlangen. Daher nehme Gottes Sohn die Strafe auf sich. So könne Gott gerecht und gnädig sein. „Ich will nicht, dass Jesus für mich stirbt“, sagen viele. Andere sagen: „Wie konnte Jesus die Verantwortung für Dinge übernehmen, die damals noch völlig undenkbar waren: die Ausrottung ganzer Indiovölker, die Versklavung von Millionen von Afrikanern, den millionenfachen Mord an Juden?“

Und doch hat das Bild viele Menschen getröstet: „Wenn ich einmal soll scheiden“, dichtete der Pfarrer Paul Gerhardt acht Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, „so scheide nicht von mir. Wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür. Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.“ Paul Gerhardt stellte sich vor, er müsse seine Taten vor seinem ewigen Richter verantworten. Doch die Sündenlast sei so groß, dass er Höllenstrafen befürchten müsse. Hier kommt die Bitte aus der Liedstrophe ins Spiel: Jesus tritt hervor, tritt für den Angeklagten ein, nimmt seine Schuld auf sich. So kann das sündige, aber doch gläubige „Ich“ zu Gott heimkehren.

Diese Hoffnung prägte über Jahrhunderte die protestantische Gewissenskultur: Du kannst nicht alles richtig machen. Aber du musst dich dem Bösen, das du anrichtest, stellen. Dann kannst du auf die Gnade Christi hoffen. Diese Gewissenskultur verband einen hohen moralischen Anspruch mit der Bereitschaft, die Gesellschaft zu gestalten – und dabei das Risiko einzugehen, auch Fehler zu machen.

In vielem, was Luther gelehrt hat, findet man diesen Zwiespalt wieder: Feindesliebe bis zur Selbstverleugnung. Schlägt dich der Feind, so halte ihm die andere Wange hin. Zugleich lehrte Luther, dass man für andere Verantwortung übernehmen soll. Bedroht der Feind das Leben deines Nächsten, musst du ihn verteidigen, auch mit der Waffe. Selbsthingabe ja, aber eben auch Verantwortung für andere.


Burkhard Weitz
Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der Evangelischen Kirche. www.chrismon