Brüche, so habe ich in der Mathematik gelernt, musst du auf einen Nenner bringen. Schau, ob sie sich kürzen lassen. Manchmal musst du sie umdrehen, oben nach unten, unten nach oben, um weiterzukommen. Und ich frage mich, ob auch die Brüche des Lebens, manche jedenfalls, sich umformen lassen.
Mag sein, dass es nicht möglich ist, sie auf einen Nenner zu bringen. Oder zu einem Endergebnis zu kommen.
Aber wer weiß? Es könnte doch möglich sein, dass die Brüche des Lebens, umgeformt und gewendet, sich verwandeln (lassen) in Sinn.
Zerbrechlich liegt die Pflanze in ihren Händen. Noch wirkt sie gesund, stabil und frisch. Doch wenn das Pflänzchen nicht zurück ins Erdreich gesetzt wird, verdorren seine Blätter. Wenn wir zusehen, wie das Werden und Vergehen der Natur seinen Lauf nimmt, merken wir schnell, dass auch uns und unserer Umgebung erst einmal nur ein Häufchen Erde zur Verfügung steht. „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr,“ heißt es in Psalm 103.
In der Passionszeit spüren wir dieser Vergänglichkeit nach und merken, wie zerbrechlich unsere Beziehungen sind und letztlich unser Leben. Die Osterfreude wächst aus diesem Erkennen empor: Jesus Christus hat die Macht, uns in ein Erdreich zu verpflanzen, das unendlich viele Nährstoffe bereithält. Ein neues Leben erwartet uns nach dem Tod, weil Jesus Christus der Gärtner ist, der unser Wurzelwerk tränkt. Er hält uns in seiner Hand wie die Gärtnerin ihre Rapunzel. So führt es uns der Monatsspruch im April vor Augen:
„Dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.“
Der Brief des Paulus an die Römer, Kapitel 14,9
In diesem Sinne wünsche ich, dass sich die Freude in Ihr Herz einwurzeln kann.
„… damit du dich nicht vor den Leuten zeigst, mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.“ Matthäus 6,18
Das Fasten, wie auch andere innige Handlungen, können Zeugnis dafür sein, dass man das Beten auch ernst meint. Wenig zu essen hat grundlegende Auswirkungen auf die Konzentrationsfähigkeit; übermäßiger Genuss kann träge machen. Und wer wenig isst, hat zudem mehr Zeit. Er schläft auch besser. Was man mit dieser Zeit macht, ist jedem selbst überlassen ‒ aber oft sind die Fastenphasen gekennzeichnet von kreativen Momenten. Die Kirchenväter meinten allerdings, dass man das Fasten nicht so sehr vor sich hertragen solle. Fasten ist eine stille Angelegenheit. Wie auch beim Beten müssen andere nicht unbedingt wissen, dass man fastet. Also locker bleiben, und diese Lockerheit aber nicht mit dem Freibrief zur Inkonsequenz verwechseln. Fasten ist für den Christen keine Praxis, mit dessen Hilfe er anderen seinen eisernen Willen schaustellerisch beweisen kann. Still und beinah unbemerkt ambitioniert zu sein, zur Buße, für Konzentration, Einkehr oder für Gott zu fasten: dies ist sehr viel herausfordernder als „demonstratives Fasten“. Es geht hier gar nicht nur ums Essen. Man kann Verhaltensweisen fasten (Shoppen, Autofahren, Süchte), man kann auf Alkohol oder, ganz klassisch, auf Fleisch verzichten. Nicht um abzuspecken. Fasten ist keine neue Diät, sondern eine besondere innere Haltung. Sich frei und unabhängig zu machen. Sich öffnen und gleichzeitig die Sinne zu entfalten, um die Stille in sich zu entdecken. Den Blick schärfen auf das Wesentliche, auf IHN. Er, der am Kreuz für uns zum Segen wurde.
Von Anfang an verstanden Christen den Tod Jesu als Selbstopfer für andere. Die Bibel steigert das Motiv der Hingabe ins Mythische: Jesus habe ein Lösegeld bezahlt, um die Gläubigen freizukaufen, schrieb Paulus (1. Korinther 6,20). Jesus trage die Schuld der ganzen Welt, soll Johannes der Täufer gesagt haben (Johannes 1,29): „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünde der Welt“, singen Christen heute noch beim Abendmahl: „Erbarm dich unser.“ Eine schwierige Vorstellung, an deren Erklärung viele Theologen gescheitert sind.
Manche sagen: Ein gnädiger und gerechter Gott dürfe nicht alle Schuld ungesühnt lassen. Er müsse eine Sühne verlangen. Daher nehme Gottes Sohn die Strafe auf sich. So könne Gott gerecht und gnädig sein. „Ich will nicht, dass Jesus für mich stirbt“, sagen viele. Andere sagen: „Wie konnte Jesus die Verantwortung für Dinge übernehmen, die damals noch völlig undenkbar waren: die Ausrottung ganzer Indiovölker, die Versklavung von Millionen von Afrikanern, den millionenfachen Mord an Juden?“
Und doch hat das Bild viele Menschen getröstet: „Wenn ich einmal soll scheiden“, dichtete der Pfarrer Paul Gerhardt acht Jahre nach dem Dreißigjährigen Krieg, „so scheide nicht von mir. Wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür. Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.“ Paul Gerhardt stellte sich vor, er müsse seine Taten vor seinem ewigen Richter verantworten. Doch die Sündenlast sei so groß, dass er Höllenstrafen befürchten müsse. Hier kommt die Bitte aus der Liedstrophe ins Spiel: Jesus tritt hervor, tritt für den Angeklagten ein, nimmt seine Schuld auf sich. So kann das sündige, aber doch gläubige „Ich“ zu Gott heimkehren.
Diese Hoffnung prägte über Jahrhunderte die protestantische Gewissenskultur: Du kannst nicht alles richtig machen. Aber du musst dich dem Bösen, das du anrichtest, stellen. Dann kannst du auf die Gnade Christi hoffen. Diese Gewissenskultur verband einen hohen moralischen Anspruch mit der Bereitschaft, die Gesellschaft zu gestalten – und dabei das Risiko einzugehen, auch Fehler zu machen.
In vielem, was Luther gelehrt hat, findet man diesen Zwiespalt wieder: Feindesliebe bis zur Selbstverleugnung. Schlägt dich der Feind, so halte ihm die andere Wange hin. Zugleich lehrte Luther, dass man für andere Verantwortung übernehmen soll. Bedroht der Feind das Leben deines Nächsten, musst du ihn verteidigen, auch mit der Waffe. Selbsthingabe ja, aber eben auch Verantwortung für andere.
Burkhard Weitz Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der Evangelischen Kirche. www.chrismon
Vierzig Tage vor Ostern fasten Christen, nicht immer aus religiösen Gründen. Viele hungern nur den Winterspeck ab. Vorsicht! Um dauerhaft abzunehmen, muss man nach dem Fasten gesünder essen als vorher. Sonst ist der Speck im Nu wieder da. Andere wollen nach einem Winter mit reichhaltigen Speisen den Körper im Frühjahr entgiften und verzichten deshalb auf Fettes und Süßes. Wer noch konsequenter denkt, setzt vielleicht auf die seelische Entschlackungskur. Ein paar Tage kann man auf feste Nahrung verzichten und lebenswichtige Vitamine und Flüssigkeit über Säfte und Suppen aufnehmen: Wer weniger Energie für die Verdauung braucht, hat mehr Energie für den Geist. Das funktioniert auch ohne Religion.
Dennoch war Fasten in allen Religionen stets wichtig. Schamanen und Propheten bereiteten sich auf Offenbarungen vor, indem sie fasteten. Antike Menschen fasteten aus Buße oder Trauer. Für die Muslime beginnt in diesem Jahr vor dem christlichen Osterfest der Fastenmonat Ramadan. Dann sind alle Gläubigen aufgerufen, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang Hunger und Durst zu zügeln – und auch die Zunge vor übler Nachrede in Zaum zu halten, den Augen Unanständiges zu verbergen und die Ohren vor bösen Worten zu verschließen.
Religionen deuten das Fasten als Akt der Buße, der Bewährung oder der Reinigung. Und sie geben vor, wie Menschen gemeinsam verzichten können. Tun es alle gleichzeitig, fällt die Entbehrung nicht so schwer. Christen fasten nur an Wochen-, nicht aber an Sonntagen. Da jeder Sonntag an Jesu Auferstehung „am ersten Tag der Woche“ (Johannes 20,1) erinnert, feiern Christen auch die vorösterlichen Sonntage als kleine Oster- und Freudenfeste. Die 40 Tage der Fastenzeit verteilen sich auf 36 Wochentage nach den sechs vorösterlichen Sonntagen und auf die vier Wochentage davor. So beginnt die sogenannte Passionszeit stets an einem Mittwoch, dem Aschermittwoch.
Im Mittelalter erwies sich das Fasten vor Ostern als sinnvoll, Wintervorräte wurden knapp. Auch die 40 Tage vor Weihnachten waren als Fastenzeit angedacht. Nach der Zeit des Schlachtens, Räucherns und Einmachens im November konnte sich das adventliche Fasten nicht durchsetzen.
Das Fasten kann man unterschiedlich deuten. Aber der Verzicht soll Menschen nicht schwächen. Die Fastenzeit soll ihre Widerstandskraft gegen Versuchungen stärken, denen nachzugeben sie sonst bereuen. Sie soll Klarheit verschaffen und Menschen flexibler machen in ihren Entscheidungen.
Burkhard Weitz Aus: „chrismon“, das Monatsmagazin der Evangelischen Kirche. www.chrismon
Von Pfarrer Dr. Matthias Dreher am 28.02.2021 in der Stephanuskirche in Gebersdorf
Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg
„Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte. Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen. Des Herrn Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war blutiger Rechtsbruch; und auf Gerechtigkeit, siehe, da war schreiende Schlechtigkeit.“
Jesaja 5,1-7
Liebe Mitchristen hier in Gebersdorf,
Dieses Lied ist in seiner Härte und in seiner berechnenden Konsequenz ein gefährliches Wort der Heiligen Schrift. Denn in ihm klingen vertraute und belastende Erfahrungen von uns allen an, – ja vielleicht sind es sogar Grunderfahrungen nicht nur eines reifen sondern auch eines jungen Lebens. Es spiegeln sich in ihm Verhaltensweisen und Erfahrungen, die wir selber als Kinder schon erlebt und gefürchtet haben, und die wir, so vermute ich, unseren eigenen Kindern, unseren Freunden, Arbeitskollegen, ja auch gerade den Menschen, die wir lieben, nicht ersparen, nämlich die Strafe durch Liebesentzug: Liebesentzug und Schweigen, Abbruch der Beziehung, die unser Das ein Tag für Tag trägt. Davon singt Jesaja hier. Kalte Abwendung, Preisgabe an das zerstörerische Chaos, das kennen wir eigentlich alle, selbst wenn wir es nicht so konsequent machen wie manche Familien noch heute, die ihre Kinder, Jungen und Mädchen, gnadenlos fallen lassen, wenn sie den Wünschen der Eltern nicht entsprechen, oder wie manche ehemals Liebende, die einander erbarmungslos bekriegen, nachdem ihre Liebe wodurch auch immer abgestorben ist. Selbst wenn wir nur kurzfristig unsere Liebe entziehen, oder Liebe entzogen bekamen, – das Modell dieser Art von Erziehung ist uns allen sicher vertraut, seine Logik sitzt tief in unserer Seele. Sie treibt in Anpassung, in Unfreiheit und in Angst! Gefährlich.
Aber auch die anderen Erfahrungen, die dem Liebesentzug vorausgehen, kennen wir alle, nämlich die Erfahrungen von Vergeblichkeit und vom Umsonst unserer Mühe, von Anstrengungen ohne Erfolg. Im Beruf, in den Beziehungen der Liebe, in der Erziehung unserer Kinder, in der Arbeit in und an der Kirche, in Gesellschaft und Politik – alles umsonst, alles vergeblich. Lebensträume scheitern und lassen uns dann verbittert zurück. Ein Sohn, eine Tochter bricht ihre Ausbildung ab, Kinder finden sich im Leben nicht zurecht, obwohl wir alles für sie getan haben, – oder schon in der Jugend: der Freude der gerade erwachten Liebe folgt ihr schneller Tod. – Trotz allem, was man investiert hat, implodieren Freundschaften, und der Vorrat an Vertrauen reicht nicht. Alles, was wir an Liebeskraft, an Zeit, auch an Geld und Energie investiert haben – es war umsonst.
Gefährlich ist dieses sogenannte „Weinberglied“, weil es diesen Schmerz, diese Kränkung, diesen Frust, und v.a. die Strafe auch bei Gott sieht. Nicht nur wir kennen das Umsonst, nicht nur wir strafen mit dem Entzug unserer Liebe, nicht nur wir geben den Menschen preis, der unsere Zuwendung ausschlug, nicht nur wir pochen darauf, dass Leistung sich lohnen muss, sondern Gott selber tut es. Hat Gott diese Form des strafenden Rückzuges, diese Logik selber seiner Schöpfung eingegeben, so dass es nicht nur ein menschliches Verhalten ist, sondern sogar ein schöpfungsgemäßes Grundgesetz des Lebens? Dann wäre all dies Verhalten von Gott sogar so gewollt, sozusagen sanktioniert. Dann könnte ich mich, wenn ich mich so verhalte, immer auf Gott selbst berufen. Und umso leichter kann ich es gegen mich wenden und verstehen, dass ich schutzlos mir selbst überlassen bleiben muss, wenn ich mich Gott widersetze und seine Reaktion auf mein Tun provoziere. Gefährlich in nochmal anderem Sinn ist dieses Lied, wenn wir es deuten auf die Schwierigkeiten unserer Kirche: den immensen Traditionsabbruch, – oder unser dramatisches Kleinerwerden. Steckt hier in Jesajas Lied vom enttäuschten Weingärtner der Schlüssel zur Antwort auf unsere Fragen zur Misere und Zukunft der Kirche:
Warum muss gerade unsere Generation so stark abbauen, einschränken, zurücknehmen, auflösen, umstrukturieren? Ich sage nur PUK.
Was haben wir falsch gemacht?
Sind wir vielleicht nicht glaubwürdig genug, als Pfarrer, als Kirchenvorstand, als Gemeinde, als Kirchenleitung?
Trifft uns daher Gottes Zorn?
Hat Gott uns preisgegeben und pflegt er seine Kirche nicht mehr?
Der verstorbene hessische Kirchenpräsident Peter Steinacker, bei dem ich noch studiert habe, hat zu diesen Fragen angesichts unseres Weinberg-Lieds ein beeindruckendes Zeugnis gegeben. Er schreibt:
„Ich gestehe, dass ich mich von diesem Text, den ich kenne und liebe, seit ich ihn im Theologiestudium in der Jesaja-Vorlesung gehört habe, oft verführen ließ. Ich habe in Situationen meines Lebens, in denen mich die Reue über Schuld, Fehlverhalten und Angst vor Folgen und Liebesentzug sowieso schon niederdrückte, diesen Eiseshauch als verdiente Reaktion Gottes geglaubt. Nicht nur meine Schuld, auch der Rückzug meines Gottes, dessen liebevolles, mich stets tragendes Erbarmen mir dann auch noch entschwand, das drohte mir dann den Boden unter den Füßen völlig wegzuziehen. Ich nahm meine Verzweiflung über mich und mein Fehlverhalten, über meine Kirche, mein Umsonst-aller-Mühe als logische Folge der strafenden Abwendung Gottes, der meinen Hochmut dämpft und meine Sorglosigkeit einfach nicht hinnimmt.“
So würde dieses Weinberglied eine destruktive, zynische Wirkung entfalten. Darin liegt seine Gefahr. Die Botschaft wäre dann das, was man heute schwarze Pädagogik nennt. Steinacker wollte das Lied dann so nicht mehr verstehen und auch wir haben alles Recht, es schöner zu verstehen, weil es sonst auch nicht in die Gesamtbotschaft Jesajas passen würde – und der Bibel schon gar nicht. –
Gut, immerhin, es bleibt dabei: Dieses Lied zeigt uns Gott nicht als lieben Gott. Hier redet kein gefühlloser, unberührbarer Gott, keiner, der unser Harmoniebedürfnis kosmisch befriedigt. Der Gott des Weinbergliedes kennt Angst, Sorge, Verletzung, Wut und Enttäuschung, denn er ist einer, der Antwort haben will, der unser Schweigen, unseren Lebens-Unsinn nicht erträgt. Ein Gott, dessen Liebe enttäuscht wird und der darauf reagiert – auch mit Strafe. Immer wieder höre ich den Satz: Wir haben keinen strafenden Gott mehr. Also wer das Alte Testament stehen lässt, hat den strafenden Gott noch. Und vorhin hörten wir aus dem Johannesevangelium (Joh 3,14-21), dass auch Jesus das Gericht verkündet. Aber gerade dort wurde deutlich, dass das Gericht eine Folge von Gottes Liebe ist. Gott will nicht richten, sondern retten. Gott ist aber ebensowenig ein Rettungs-Automat wie er kein Straf-Automat ist. Wer sich seiner Barmherzigkeit entzieht, landet im existentiellen Chaos. Ja, aber es gibt immer die Tür zurück, den Weg in die rettende Liebe. Auch als Richter kennt Gott nicht den Triumph des: „Da hast Du’s! Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Schau, wie du da wieder rauskommst.“
Und auch im Weinberglied geht es eigentlich nur um die Liebe. Auch die zornige Reaktion Gottes ist eingerahmt in die Liebe. Man sieht es an der Wendung: „die Männer Judas sind seine Pflanzung, an der sein Herz hing“. Jesaja singt ein Liebeslied. Er singt vom Schmerz der Liebe Gottes.
Ein Liebeslied?
Es ist sogar ein Liebeslied mit eindeutig erotischem Unterton. Der Weinberg, das ist ein allen Zuhörern vertrautes Bild für die Braut. An vielen Stellen der Bibel, besonders im Hohen Lied, ist der Vergleich des Weinbergs mit der erotisch Geliebten gewählt. Als Kostprobe lese ich Hoheslied 7: Er fängt an:
„Wie schön und wie lieblich bist du, du Liebe voller Wonne! Dein Wuchs ist hoch wie ein Palmbaum, deine Brüste gleichen den Weintrauben. Ich sprach: Ich will auf den Palmbaum steigen und seine Zweige ergreifen. Lass deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock und den Duft deines Atems wie Äpfel“. – Und sie antwortet: „Meinem Freund gehöre ich, und nach mir steht sein Verlangen. Komm, mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen und unter Zyperblumen die Nacht verbringen, dass wir früh aufbrechen zu den Weinbergen und sehen, ob der Weinstock sproßt und seine Blüten aufgehen, ob die Granatbäume blühen. Da will ich dir meine Liebe schenken.“
Hld 7,7-9.11-13
Das ist der Ton, in dem Jesajas Hörer normalerweise vom Weinberg hören. Gott scheut sich also nicht, sein Verhältnis zu uns sogar in erotischen Bildern zu beschreiben. So wie einem enttäuschten Bräutigam mit seiner treulosen und seiner Liebe nicht würdigen Braut geht es Gott mit uns. Dennoch: Es geht bei allem Vergleich mit unserer Liebe um die Liebe Gottes. Und von Gott verkündet uns ein anderer Prophet den entscheidenden Unterschied zwischen der erotischen Liebe unter uns und der Liebe Gottes: „Ich bin Gott und kein Mann!“, heißt es beim Propheten Hosea (Hos 11, 9). Das heißt, auch wenn seine Liebe nicht erwidert wird, pocht Gott nicht auf sein Recht und holt – etwa bei Hosea – sein Volk nach Hause. Gott ist eben „kein Vertilger“. Seine Enttäuschung führt nicht automatisch zu Vergeltung und ewigem Hass. Anders herum ist es: Gott lässt sich so auf uns ein, dass er in all seiner Allmacht eingestehen muss: „Auch ich kann hier nichts mehr tun. Sie haben meine Liebe enttäuscht. Aber wenn ich sie jetzt zwingen würde, würde ich die Liebe auch noch von meiner Seite aus zerstören. Das will ich nicht.“
Und wie es Gott jetzt geht, auch das kennen wir von uns: Es gibt Phasen auch in unserem Leben, in denen wir vom Leben und von anderen so enttäuscht sind, dass wir nur noch uns selber haben. Dann warten wir vergeblich darauf, angesprochen zu werden, angesehen und herausgeholt zu werden aus unserer Menschen- und Gottverschlossenheit. Wüste, Dornen und Disteln, auch das gehört zu unserem Leben, auch zu unseren Glaubenserfahrungen als Gotteserfahrungen. Zur Liebe und zum Glauben, das lehrt uns das Weinberglied, gehört auch die Passion: das Leiden aus Leidenschaft.
Und hier möchte ich den eigentlichen Schlüssel zum Lied von Gott, dem enttäuschten Liebhaber seiner Braut finden. Gott selber ist in das Gelingen seiner Liebe unwiderruflich verliebt. Darum geht er trotz Rechtsanspruchs und Enttäuschung in seine große Passion – uns zum Heil.
So dienen sein Zorn, seine eiskalte Abwendung, seine Emotionen letztlich auch wieder nur dazu, den Bann der bitteren Erfolglosigkeit zu brechen. Gott, der uns von Jesus als die unsterbliche Liebe ins Herz gesenkt wurde, Gott geht selber den Passionsweg der Liebe, deren „Umsonst“ nicht endgültig ist, weil es für Gottes Gnade kein Aus und Vorbei gibt. Das zeigt der Kreuzweg. Jesus zeigt uns, dass Gottes Liebe ins Gelingen verliebt ist, dass er selber sich ins Leid der Welt begibt, damit der Schatten des Umsonst und des vernichtenden Zorns, die Dornen und die Wüste unseres kleinen Lebens und des ungeheuren Leides der Welt nicht das letzte Wort haben.
Niemand hat das welt- und lebenserfahrener beschreiben können als Martin Luther. Seine Worte weisen den Weg aus dem Umsonst und der Angst – zur dankbaren Freude an unserem hilfreichen Hirten. Damit schließe ich:
„Wenn du diesen Hirten kennst, so kannst du wider Teufel und Tod dich schützen und sagen: Ich habe ja leider Gottes Gebote nicht gehalten; aber ich krieche dieser lieben Henne, meinem lieben Herrn Christo, unter ihre Flügel und glaube, dass er ist mein lieber Hirte, Bischof und Mittler vor Gott, der mich deckt und schützt mit seiner Unschuld und schenkt mir seine Gerechtigkeit; denn was ich nicht gehalten habe, das hat er gehalten, ja, was ich gesündigt habe, das hat er mit seinem Blute bezahlt. Sintemal er ist nicht für sich, sondern für mich gestorben und auferstanden, wie er denn … spricht: Er lasse sein Leben nicht für sich, sondern für die Schafe. Also bist du denn sicher, und muss dich der Teufel mit seiner Hölle zufrieden lassen; denn er wird freilich Christo nichts anhaben können, der ihn schon überwunden [hat] und dich, so du an ihn glaubst, schützt und erhält.“
Amen.
Wesentliche Anregungen zu dieser Predigt stammen von Prof. Dr. Peter Steinacker (†)