Predigt über das Vaterunser

Von Pfarrer Dr. Matthias Dreher am 16.05.2021 in der Stephanuskirche in Gebersdorf zum Sonntag Rogate

Liebe Brüder und Schwestern, 

Rogate! heißt dieser Sonntag. Betet! – Aber wie? Mit dieser Frage sind schon die Jünger an Jesus herangetreten, den sie ja immer wieder beten sahen. Die Antwort, die er den Jüngern gibt, steht in der Mitte der Bergpredigt und ist heute unser Predigttext. Es ist das Vaterunser. Ich lese es im Zusammenhang und wähle für das Gebet selbst meine wörtliche Übersetzung:

Christius spricht: Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, damit sie von den Leuten gesehen werden. […] Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. […] Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. Darum sollt ihr so beten: 

Unser Vater in den Himmeln, 
geheiligt werde dein Name, 
es komme deine Königsherrschaft, 
es geschehe dein Wille – wie im Himmel auch auf der Erde!
Unser Brot für morgen gib uns heute!
Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldnern!
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel!

Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

Matthäus 6,5-15

In wenigen, einfachen Worten nimmt Jesus uns hinein in das Vertrauen zwischen ihm und dem Vater, seinem Vater und unserem Vater. So beten heißt als Geschwister beten. – – – Im Gegensatz zu schwülstigen Gebetsanreden, wie sie in Antike und Orient üblich waren, spricht Jesus unseren Gott einfach mit Vater an, aramäisch vielleicht nur mit „Abba“, Papa. – Nun leben wir in Zeiten einer völlig überhitzten Gender-Debatte und manche runzeln bei der Anrede „Vater“ für Gott die Stirn. Ich halte mich kurz dazu: Natürlich ist Vater nur eine Metapher. Gott ist WIE ein Vater. Das zeigt schon der einzige Zusatz: „im Himmel“. Wir haben einen Vater neben unserem leiblichen Vater. Einen unsichtbaren neben dem sichtbaren. Einen mächtigeren neben dem nur manchmal mächtigen und sterblichen Vater. Wir alle wissen, was ein guter Vater sein kann – und zwar auch, wenn wir’s nicht erlebt haben. „Vater“ steht für einen frommen Juden wie Jesus für die Verbindung von Liebe mit gerechter Strenge; für das Oberhaupt der eigenen Sozialgruppe, sprich Familie.

„Vater“ ist als der Erzeuger auch der Ursprung, – der, ohne den es mich nicht gäbe, weil er mich wollte. Ein „Vater“ ist für Jesus eine Autorität – und genauso der, der mir barmherzig unter die Arme greift. 

Geheiligt werde: Dein Name

Der Name ist in der Bibel immer mit der Macht des Trägers verbunden. Dann: Dein Reich komme; wörtlich: Kein abgegrenztes Gelände, sondern deine Königsherrschaft komme. Und: Dein Wille geschehe. Damit bitten wir, dass Gott sich bei uns durchsetzt – im Großen und Ganzen wie auch in unserem einzelnen Leben. So wie das Reich Gottes, seine Herrschaft, überall aufgeleuchtet hat, wo Jesus auftrat, – wo er geheilt und versöhnt hat, aber auch ermahnt hat, so bitten wir, dass es auch bei uns passiert. Dass bei uns weitergeht, was mit Jesus begonnen hat: das Reich Gottes ist mitten unter euch! Überall, wo das Reich Gottes hinkommt, ist es, wie wenn der Himmel die Erde berührt. Und wer darum bittet, der stellt sich mit seinem Denken, Wollen und Tun darauf auch ein. So wie ein Reisender am Bahnsteig, wenn es heißt: „Der Zug fährt ein!“. Dann raffe ich mein Gepäck, taste nach meiner Fahrkarte, drücke vielleicht noch die Zigarette ausdrückt. Der Zug komme! Dein Reich genauso! Ich stelle mich drauf ein.

Also verändert uns das Beten. Da können uns andere Mächte und Menschen noch so gewaltsam ihre Macht aufzwingen wollen, sie sind doch auch nur Geschöpfe unseres gemeinsamen Schöpfers. So hat das Beten fast einen rebellischen Zug. Oder zumindest: es verleiht mir einen festen Stand. Denn es zeigt mir, wo oben und unten ist. Betend bin ich so, wie ich bin: Mensch, Sünder, geliebtes Kind, zum Himmel ausgerichtet, aufrecht. Betend entthrone ich die, die sich zu Götzen aufspielen. Ich lasse mir mein Menschsein gefallen und lasse Gott Gott sein. 

Dein Wille geschehe

Nochmal: Dein Wille geschehe. Das ist hier weniger defensiv gemeint als das Gebet Jesu in Gethsemane: „Vater, nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Wir beten hier nicht um das demütige Annehmen unseres Schicksals, sondern wie beim Namen und beim Reich darum, dass Gott sich durchsetzt. Aber was will Gott denn? Gott will, dass allen Menschen geholfen werde, heißt es im 1. Tim. Gott will uns helfen durch die 10 Gebote und das Kreuz, durch Gesetz und Versöhnung. Er will den Tod der Sünde und das Leben der Liebe. Er will die ewige Ehe von Liebe und Gerechtigkeit. Und wie sie im Himmel gelebt wird, so soll sie auch hier auf der Erde Raum greifen. 

Halten wir kurz inne nach den ersten drei Bitten und achten darauf, was Jesus hier besonderes macht. Wenn wir – naiv sag ich mal – beten, dann bitten wir um Aktivität:

„Gott, mach bitte das und das!“ Oder wir bitten ihn, dass er uns zur Aktivität verhilft: „Gott, schenk mir Kraft, oder deinen Geist, dass ich das und das schaffe“ – oder ähnlich. – Jesus dagegen lässt uns um etwas Passives bitten, um ein Geschehen, um das sich der allmächtige Gott ohnehin kümmert. Gott wird seinen Namen, seine Herrschaft, seinen Willen ohnehin durchsetzen. Warum also darum bitten? Weil Gott und Jesus wollen, dass all dies nicht an uns vorbei oder ohne uns geschieht, sondern durch uns hindurch – mit uns zusammen. Gottes Name ist an sich schon heilig, aber er soll auch durch uns und bei uns geheiligt werden. Sein Reich kommt eh! Aber wir bitten, dass wir uns drauf einstellen, dass wir drin sind und nicht draußen! Und sein Wille soll auch durch und bei uns umgesetzt werden. Durch diese eigentümlichen Formulierungen macht uns Jesus zu Kooperationspartnern Gottes – sicher nicht auf Augenhöhe, aber so, dass wir uns nicht auf die Aufgabenteilung zurückziehen können: Ach, das macht schon Gott – und das kann ja dann noch ich machen. Wie beim Gottessohn Jesus selbst soll auch bei uns ununterscheidbar sein, was an unserem Tun Gottes- und was Menschen-Werk ist.

Bitte nach dem täglichen Brot

Keine Bitte erdet unseren christlichen Glauben so wie die Bitte nach dem täglichen Brot. Das berühmte Wort von Bert Brecht: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral!“ – Jesus hat es gewusst und beherzigt. Unser tägliches Brot steht für alles Lebenswichtige: Nahrung, Kleidung, Gesundheit natürlich auch, ein Dach über dem Kopf, die Arbeit, den Respekt der anderen, der mich leben lässt. 

Die deutsche Übersetzung verschleiert die Pointe der Bitte: Wörtlich heißt es nämlich: Unser Brot für morgen gib uns heute. Also: Nimm uns die Sorge, wie wir über den morgigen Tag kommen, damit uns unsere leiblichen Bedürfnisse nicht einschnüren. Aber Hamstern, Horten, Sich Bereichern; das ist nicht gemeint. Denn Gott weiß, wie leicht uns der irdische Vorrats-Luxus bindet und wie leicht wir dann seinen Namen, sein Reich, seinen Willen auf die Plätze zwei, drei, vier hintanschieben. Nur die Sorge um den nächsten Tag soll uns, wenn wir abends zu Bett gehen, genommen sein. Wir können ruhig schlafen, weil wir mit dem Nötigen für morgen versorgt sind. Und nur wer diesem Nötigsten nicht hinterherhecheln und betteln muss, behält auch seine Würde. Die hat Jesus mit seiner Bitte für uns im Blick. 

So führt uns diese Bitte „Unser tägliches Brot gib uns heute“ auch zur Dankbarkeit, dass Gott uns schon so lange und für die meisten von uns – nicht alle! – so verlässlich die Sorge um unser Auskommen abnimmt. Doch auch hier hat die Corona-Krise unsere Selbstverständlichkeiten ins Wanken gebracht. Wer kauft ein, wer bringt mich zum Arzt? Wie regle ich dringende Geschäfte, wenn persönlicher Kontakt und Rat gar nicht möglich sind? – – – Wieviele Unternehmer bitten heute: Unseren täglichen Umsatz gib uns heute! Denn daran ist oft gar nichts mehr selbstverständlich. – Auch dafür steht das „tägliche Brot“ und so gewinnt die Brot-Bitte zur Zeit wieder ungeahnte Brisanz. 

Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern

Niemand von uns lebt, ohne dass er anderen weh tut. Ich bleibe dir etwas schuldig, weil ich gefangen bin in mir selbst. Ich verstricke mich in meinen Willen, verfolge meine Ziele und füge dir Schmerz zu. Ich verletze dich: manchmal ohne es zu wollen, manchmal nehme ich‘s bewusst in Kauf, um meine Interessen durchzusetzen. Und es ist zu einfach zu sagen, wir sind eben Menschen und es ist eben so: damit machen wir es uns zu leicht. Als könnten wir nicht anders. Wir können in der Tat nicht alles davon abstellen. Aber wir können mehr verbessern, als wir meist zuzugeben bereit sind.

Auch bei dieser Bitte ist die Übersetzung problematisch, weil sie verdeckt, dass Jesus hier ziemlich un-evangelisch denkt. Da Luther von Johannes und Paulus aus denkt, sind wir evangelisch gewöhnt, dass Gott immer in Vorleistung geht und wir mit dem, was er uns schenkt, dann wuchern können. Mit seiner Liebe, seinem Geist, seiner Gerechtigkeit geht das so. Am deutlichsten zeigt es sich vielleicht in der Säuglingstaufe. Gott adoptiert mich zu seinem Kind, bevor ich noch irgendetwas begreifen oder tun kann. – Jesus aber lässt uns hier wörtlich bitten: Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben. – Wir sind es also, die in Vorleistung gehen und wenn Gott sieht, dass diese Bedingung erfüllt ist, dann ist er willig, auch uns zu vergeben. Interessanterweise wird nur diese Bitte direkt nach dem Vaterunser von Jesus nochmals festgeklopft:

„Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“

Matthäus 6, 14f

Nun darf man diese Bedingung allerdings nicht herausschneiden aus dem ganzen Vaterunser mit der schlichtintimen Anrede: Unser Vater oder „Papa“. Das Gebet bittet ja nicht, dass Gott aufgrund meines Tuns eine Beziehung zu mir erst eröffne, sondern es setzt ja diese Beziehung, die Gott angeknüpft hat, schon voraus. Und also bitten wir in der Vergebungsbitte, dass wir im Beziehungsraum mit Gott – da, wo Versöhnung herrscht – bleiben. Wie bei den ersten drei Bitten zu Name, Herrschaft und Wille so wird auch hier deutlich: Was Gott will und tut – etwa vergeben – das tut er nicht ohne uns oder statt unser, sondern mit und durch uns. Und er schaut eifersüchtig, ob wir das auch umsetzen. Wenn nicht, zieht er sich selbst auch zurück und vergibt nicht. Wir können uns das gut an einer Mutter mit zwei Kindern vorstellen. Die jüngere Tochter Mira, sie ist 12, hat von ihrer älteren Schwester Jenny ordentlich eins ausgewischt gekriegt. Der älteren Jenny tut das aber inzwischen leid. Nun müsste Mira ihr das vergeben, wenn ihr Verhältnis wieder eingerenkt werden soll. Allerdings hat Mira wiederum ihrer Mutter gegenüber ordentlich was ausgefressen, was die Familie im Ganzen noch viel mehr belastet. Wenn Mira jetzt bitten würde: Mama, vergib mir meine Schuld. Ob ich auch der Laura vergebe, geht nur uns zwei was an und kann dir ja egal sein. – Wenn sie so bitten würde, merken wir: Da stimmt was nicht, charakterlich, bei Mira. Wenn sie hingegen kommt und sagt: Mama, bitte vergib mir. Übrigens hab ich der Laura auch schon vergeben. Es soll doch bei uns allen wieder Friede sein.“ Dann klingt das schon anders – und so eben will Jesus, dass wir Gott, unseren Vater, um Vergebung bitten.

Führe uns nicht in Versuchung

Auch in der sechsten und letzten Bitte geht es um die Überwindung von Egoismus, Zwist und Schuld. Die Bitte ist ins Gerede gekommen, seit Papst Franziskus im Jahr 2017 dafür plädierte, die Bitte umzuformulieren. „Führe uns nicht in Versuchung“ erwecke fälschlich den Eindruck, Gott wolle uns womöglich versuchen, was doch in Wahrheit allein Sache des Teufels sei. Deshalb solle es nun heißen: Und lass uns nicht in Versuchung geraten. Im Französischen und Italienischen wird inzwischen auch so gebetet. In Wahrheit ist an dieser Stelle die Übersetzung völlig eindeutig: Führe uns nicht in Versuchung! Der griechische Urtext kann nichts anderes heißen. Allerdings: Die Frage, ob wir Menschen selbst in Versuchung hineinstolpern, ob uns der Teufel da hinführt oder Gott – diese Alternativen spielen für Jesus hier keine Rolle. Sondern er spricht wie in den anderen Bitten von Gott so, dass er die gesamte Wirklichkeit in seinen Händen hält – und will, dass wir mit ihm kooperieren. Wir kommen in Versuchungen, wir begegnen dem Bösen: Jesus lässt uns hier bitten, dass uns das Böse nicht übermannt. Wer hier wie der Papst ein dunkles Gottesbild herausliest, missversteht Jesus an dieser Stelle. Allerdings ist Gott nicht der Oberpfleger auf einem sozialpädagogischen Ponyhof. Er nimmt sich zuweilen heraus, unseren Glauben, unsere Treue zu testen. Bei Abraham war das so, der zum Schein seinen versprochenen Sohn opfern sollte. Auch bei Hiob lässt Gott dem Teufel freien Lauf zur Versuchung. Und auch bei Jesus selbst war es so: Nach der Taufe, berichtet Matthäus, „wurde Jesus vom [Hl.] Geist in die Wüste geführt, damit er von dem Teufel versucht würde.“ (4,1) Wenn also etwas wie der Teufel mitgedacht ist, dann ist auch er abhängig von Gottes Führung. Jesus weiß also aus eigener Erfahrung genau, was er uns hier bitten lässt.

Es war für ihn schon schwer, der Versuchung zu widerstehen, als der Teufel „ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit zeigte und sprach: Das alles will ich dir geben“. Wieviel schwerer ist es für uns. Z.B. die CoronaPandemie jetzt, die so viele krank macht und etliche tötet. Ein listiges Zeug ist das. Die Gefahr redet uns nämlich wieder ein, dass körperliche Gesundheit das Allerwichtigste ist – Gesundheit und Geld. // Bildung, die Seele und Gott können warten. Auch so geht Versuchung! Deshalb sollen wir den Vater bitten, dass er uns tunlichst nicht auf die Probe stellt. Einem kühl-kontrollierenden Chef gegenüber traut man sich das nicht, aber einem liebenden Vater schon: „Bitte, Papa, mach’s mir nicht zu schwer – und halte das Böse bitte gleich und vollständig weg von mir!“ Mit „dem Bösen“ ist auch hier nicht der Teufel gemeint, sondern alles, was für uns schlecht ist. Insofern war die alte Übersetzung mit „Übel“ eindeutiger. Ein Ponyhof ist aber auch hier nicht heraufbeschworen. Jesus weiß, dass es kein Leben gibt, das dem Bösen nicht begegnet. Gerade versucht uns Gott eben doch mit der Pandemie – und wehe denen, die sagen: Das sei der Teufel.

Aus Gottes Hand haben wir alle Prüfung zu nehmen – in der Hoffnung auf den, der uns prüft. Darum weist die Schlussbitte „Erlöse uns“ voraus in Gottes Ewigkeit, wenn wir endlich total von der Liebe und dem Vertrauen umschlossen sein werden, die wir jetzt im Gebet erahnen. 

Ich komme zum Schluss

Mit Jesu Gebet lassen wir uns hineinziehen in das Vertrauen zwischen Vater und Sohn. Wir werden zu Kindern Gottes, die vertrauensvoll mit ihrem Vater sprechen können, voller Zuversicht, dass unser Vater uns geben wird, was wir brauchen. Beten ist Einstimmen in die Liebe, die Gott längst schon für uns hat. Uns ausrichten auf das, was das Leben trägt – und auf das, was uns hinausträgt über dieses Leben in den Himmel, wo der König unser Vater ist. 

Amen. 

Dr. Matthias Dreher, Pfarrer

Predigt Kantate, Einführungsgottesdienst

Einführungsgottesdienst von Pfarrerin Dr. Judith Böttcher am 02.05.2021 in der Thomaskirche in Großreuth

Symbolbild Kantate: Rotkehlchen singt auf einem Ast
Der Corona-Lockdown ließ Singvögel schöner zwitschern – haben Forscher herausgefunden. Im Gottesdienst dürfen wir nicht singen, die Vögel können wir aber den ganzen Tag hören und uns daran erfreuen.

Liebe Gemeinde,

„singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“ – diese uralte Aufforderung aus dem Psalm 98 ist uns heute als Wochenspruch gesagt, und er wird auch den Anhängerinnen und Anhängern Jesu damals, vor langer Zeit, in Jerusalem bekannt gewesen sein. Als Jesus auf einem Esel den Ölberg hinunterritt, wurde er neugierig und freudig begrüßt, von denen, die von ihm gehört hatten. Nachdem sie den Weg mit Tüchern und Kleidern gegen den Staub ausgelegt hatten, sangen sie auch. Wir hören den Predigttext aus dem Lukasevangelium:

Und als er schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.

Lukas 19, 37-40

Wenn diese schweigen, dann werden die Steine schreien.

Hören wir es, das Schreien der Steine? Wir sind hier heute zum Gottesdienst versammelt, aber statt gemeinsam als Gemeinschaft und Gemeinde zu singen am Sonntag Kantate, – das heißt schließlich „singet!“ -, müssen Sie schweigen. Wenn Jesus heute hier in Thomas einziehen würde, müssten wir uns mit 2 m Abstand in eine Reihe stellen, FFP-2-Masken vor Mund und Nase, und dürften nur entweder leise summen oder, nicht zu laut, herzlich Willkommen sagen. Hand schütteln geht natürlich auch nicht.

„Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“. Es gibt viele hier in der Gemeinde, die gerne Musik machen, die gerne singen, und da schließe ich mich selbst unbedingt mit ein. Der Sonntag Kantate gehört ja in vielen Gemeinden zu den Höhepunkten des kirchenmusikalischen Jahres. Viele kommen zusammen, um an einem Werk mitzuwirken. Und viele kommen, um zuzuhören. Musik geht unter die Haut. Immerhin haben wir ja heute das Glück, dass wir nicht nur die Orgel hören, sondern auch den Posaunenchor. Da spüren wir: Musik weckt Emotionen, rührt an, bringt Seiten in uns zum Schwingen, die sonst ohne Resonanz bleiben. Schon Kinder lassen sich von Musik ansprechen. Mein zweijähriger Sohn wünscht sich abends im Bett Lieder. „Der Mond scheint“- ein Lied, das ansonsten auch bekannt ist unter dem Titel „Der Mond ist aufgegangen“, mag er allabendlich am liebsten ein paar Mal hintereinander hören, mit allen vier Strophen, die ich auswendig kann.

„Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!“ – wir alle wissen, warum wir dieser Aufforderung hier im Gottesdienst am Sonntag Kantate im Jahr 2021 nicht nachkommen, sondern lieber schweigen. Wir wollen andere Menschen schützen, sie vor der Gefahr einer Ansteckung bewahren, Solidarität zeigen, mit denen, die besonders gefährdet sind. Als Kirche müssen wir besonders vorsichtig sein. Wir dürfen unser durch das Grundrecht verbürgtes Privileg, zu öffentlicher Versammlung und Gottesdienst einladen zu dürfen, nicht leichtfertig verspielen.

Und trotzdem schmerzt es, wie so vieles schmerzt in dieser Zeit. Wir alle müssen mit den Belastungen dieser Zeit leben, die einen trifft es härter, die anderen weniger hart. Wie schon im vergangenen Jahr spüren wir den Kontrast zwischen der Natur, die gerade sprießt und grünt und blüht und in vollem Saft steht, und den Nachrichten von Krankheit, Leiden und Tod. Wenn wir uns nach Lösungen aus der Krise umblicken, türmen sich Probleme und es eröffnen sich nur mühsame, steinige Wege. Vielleicht spüren wir in uns den Schrei nach Freiheit, nach Rückkehr in den vertrauten Trott, als man selbstverständlich die Kinder zur KiTa und Schule schicken konnte, als man zur Arbeit gegangen ist, sich auf einen Kaffeeplausch mit den Kollegen in der Pause gefreut hat. Nicht wenige werden Sehnsucht verspüren nach den Zeiten, als es völlig normal war, sich mit Freunden zum Essen zu treffen, ins Museum oder Fitnessstudio zu gehen. Oder natürlich auch, sich abends zur Chorprobe zu treffen.

Angesichts dessen ist uns nicht unbedingt nach Lachen oder fröhlichem Singen zu Mute. Gerade auch dann nicht, wenn wir uns bewusst machen, dass wir immer noch auf einem höchst privilegiertem Niveau leben. Blicken wir nach Brasilien, merken wir, dass die Krise nicht alle gleich trifft. Da gibt es menschliche Tragödien und soziale Abgründe, von denen wir uns kaum eine Vorstellung machen können. Es ist dann unsere innere Stimme der Vernunft, die uns das fröhliche Liedchen verbietet.

Manchmal hilft da ein Blick in die Vergangenheit.

Wie haben Menschen vor uns Krisen gemeistert – Krisen, die die Menschen noch weit dramatischer getroffen haben? Und vor allem: Wie haben sie Auswege gefunden und wie blicken sie heute auf diese Zeiten zurück?

Vor wenigen Jahren habe ich die Kathedrale von Coventry in Mittelengland besucht. Dort findet man heute eine Ruine. Die mittelalterliche Kathedrale wurde 1940 von der  deutschen Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt. Übriggeblieben sind der Glockenturm und Trümmer, die uns noch eine Ahnung von der alten Größe und Schönheit des Bauwerks geben. Singen kann hier niemand mehr. Stattdessen reden, ja schreien die Steine von Gewalt und Krieg und sinnloser Zerstörung.

Daneben jedoch steht ein modernes Bauwerk, die neue Kathedrale, 1962 eingeweiht. An der Stirnseite hängt ein riesiger Wandteppich, das den auferstandenen Christus zeigt, der segnend zur Versöhnung aufruft. Ebenfalls in der Kathedrale findet man das berühmte Nagelkreuz, das zu einem Symbol der Versöhnungskraft und der transnationalen Verbindung wurde. In diesem Bauwerk wird sehr viel gesungen, viel englische, ergreifende Chormusik aufgeführt, die Menschen zusammenführt zu Gottes Lob.

Für mich ist diese Doppelkathedrale ein Sinnbild dafür, wie Krisen gemeistert werden können. Man muss nicht krampfhaft in jeder Krise die Chance suchen. Trümmer dürfen stehenbleiben. Schwere, harte Steine, auch in unseren Seelen, müssen nicht wegdiskutiert und beschönigt werden. Sie dürfen schreien, und wir dürfen ihnen Raum geben. Aber daneben kann es Platz für anderes geben. Für Neues, für Lichtes und Helles. Auch für die jubelnde Chormusik.

„Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder“ – er tut Wunder auch heute. Wie können wir davon singen, wenn wir hier im Gottesdienst schweigen müssen? Wie heißt es so schön im Wochenlied: „Du meine Seele, singe, wohl auf und singe schön. Dem, welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn.“ Wir dürfen hier nicht in Gemeinschaft oder im Chor singen. Aber jeder für sich darf zuhause gerne ein Lied anstimmen.

Wer sich traut, kann ohne Begleitung zuhause dieses Kirchenlied singen. Oder sie machen das Radio an mit der Musik, die Ihnen am besten gefällt und singen dann völlig ungehemmt mit. Oder Sie stellen sich unter die Dusche und trällern dort, was Ihnen gerade in den Sinn kommt.

Denn Musik kann glücklich machen. Und Musik verweist immer auf den Schöpfer, der uns mit dieser wunderbaren Gabe ausgestattet hat. Wo Musik ins Herz einzieht, kann auch Gott einziehen. Martin Luther wird das Zitat zugeschrieben: „Musik ist die beste Gottesgabe.“ Und noch weiter: „Wer singt, betet doppelt.“ So lade ich Sie ein, heute am Sonntag Kantate zuhause doppelt zu beten. Und hier zu schweigen. Wer aber schweigt, kann umso besser zuhören. Zum Beispiel auch jetzt auf die Orgelmusik und den Bläserklang.

Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.     

Dr. Judith Böttcher, Pfarrerin

Predigt Jubilate

Von Pfarrer Dr. Matthias Dreher am 25.04.2021 in der Stephanuskirche in Gebersdorf

Idealisierte Ansicht der Akropolis mit Athena Promachos und dem Areopag
(Leo von Klenze, 1846)

Areopag-Rede: Der unbekannte Gott stellt sich vor!

Liebe Schwestern und Brüder,
Eine Handvoll yogaseliger Damen mittleren Alters sitzt im Schneidersitz auf hellbeigem Teppichboden. Ein türkiser Vorhangstoff dimmt das Sonnenlicht und der Duft orientalischer Räucherstäbchen weht einem um die Nase? Mittendrin sitzt noch jemand. Und zwar genau – Sie! Und Sie fühlen sich – in offensichtlichem Gegenteil zu allen anderen hier – irgendwie unwohl und fragen sich: „Bin ich hier richtig?“ – – – „Bin ich hier richtig?“, das könnte sich auch Franziska fragen, die heute zufällig unseren Gottesdienst besucht. Der jungen Physiotherapeutin aus dem Osten erginge es bei uns vermutlich ebenso exotisch wie uns in jener Yoga-Stunde. Lauter ältere Leute hier, merkwürdig altmodische Musik, ein Mann in einer schwarzen Robe ähnlich der bei einer Nachmittags-Gerichts-Show bei RTL. – Diese geschraubte Sprache, und über allem ein riesiger Gefolterter aus der Zeit der Antike. Alles sehr, sehr „strange“ für eine junge Frau aus dem Osten. Es bleibt die skeptisch interessierte Frage:

„Bin ich hier richtig?“

„Kirche“ kann noch so offen sein – die Welt um uns herum hat sich verändert. Unsere Kirchen – egal ob katholisch oder evangelisch oder noch anders – sind den meisten Menschen von heute ziemlich fremd geworden. Ich merke das daran, dass ich bei Beerdigungen das Vaterunser in aller Regel allein sprechen muss. Es gehört nicht mehr zum allgemeinen Repertoire. Und das ist sicher nur die Spitze des Eisbergs.
Aber unsere Zeitgenossen bieten uns eine wertvolle Außenperspektive. Wir denken ja oft, unsere eigene Kirchenwelt sei schon das große Ganze – und übersehen dabei, wie exotisch sie auf Menschen wie Franziska wirkt. Für sie ist der Altar, um den wir uns heute hier versammelt haben, genau das, wovon Paulus in der BibelLesung gerade gesprochen hat: der Altar eines unbekannten Gottes. – Wir meinen, diesen Gott zu kennen – für unsere ostdeutsche Physiotherapeutin aber ist er denkbar fremd und für viele normale Nürnberger heute ebenso. Aber diese Menschen zeigen uns, dass wir den Gott dieses Altars vielleicht gar nicht so gut kennen wie wir meinen. Wir meinen, oder besser: Wir hoffen ja, dass der Glaube uns Antwort gibt auf unsere entscheidenden, die existentiellen Fragen. Aber unter diesem glatten FrageAntwort-Schema verbergen sich auch unsere Zweifel, unser Zittern angesichts der Fragen von Leben und Liebe, von Glück und Tod. Denn Leben, Liebe, Glück und Tod fühlen sich so viel eindeutiger schön oder schlecht an – als der Gott, der uns an diesem Altar Antwort verspricht.

Das zu leugnen, wäre unehrlich.

Unsere nicht-religiösen Zeitgenossen zeigen uns die Lebensfragen und Lebenssehnsüchte oft ganz unverstellt und konfrontieren uns immer wieder mit dem eigenen Brodeln, das unter unseren christlichen Antworten lauert. Denn – auch wir – kennen das: In der Kirche zu sitzen und sich zu fragen: Bin ich hier richtig?

Nun, wie kommen wir weiter? Heften wir uns dem Apostel Paulus an die Fersen! Er ist ja nicht gleich auf den Gerichtshügel Areopag gegangen, sondern wird erst einmal in aller Ruhe durch Athen flaniert sein – diese flirrende antike Großstadt mit ihrem brodelnden Gemisch aus Lebensstilen, Glaubensweisen und Weltanschauungen. Aufmerksam schlendert Paulus durch ihre Straßen und Gassen, bleibt hier stehen, dort hängen. Denn er sucht nach den „Heiligtümern“ der Athener – nach jenen Orten, an denen sie bereit sind, dem, was ihnen heilig ist, Opfer zu bringen. – – – Und ich stelle mir vor, wie er zweitausend Jahre später – sagen wir vor zwei Jahren, also vor Corona, unsere quirlige Stadt besucht hätte. Welche Heiligtümer fände er dort? Wofür sind wir bereit, etwas zu opfern: Zeit, Geld und Herzblut? Ich stelle mir vor, wie er durch die Fußgängerzone schlendert und aus dem Staunen nicht mehr herauskommt, was es da in normalen Zeiten alles zu kaufen gibt. Vielleicht setzte er sich aber auch ins Frankenstadion und zittert mit dem Club – hört wie seine Anhänger schreien und singen. Womöglich hätte ihm das echt gefallen. Käme er heute in Pandemie-Zeiten, würde er vielleicht einen offiziellen Stadt-Tempel wie die Sebalduskirche besuchen und gleich daneben das wunderschöne Klima-Camp. Und ins Impfzentrum im Messegelände würde er gehen und staunen, wie wichtig uns die Gesundheit ist.

Heiligtümer von heute – und damals

An all solchen Orten fände er ‚Heiligtümer’ von heutigen Nürnbergern. Der Soziologe Peter Berger spricht von Altären der Moderne. Und vielleicht würde Paulus überall dort auch das finden, was er auf seiner Suche nach einem Anknüpfungspunkt für das Evangelium bereits in Athen entdeckte: Altäre eines unbekannten Gottes. Damit beginnt er dann auch seine Predigt auf dem Areopag – hören wir noch einmal hinein:

„Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift: DEM UNBEKANNTEN GOTT. Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch. Gott, der die Welt erschaffen hat […] wohnt nicht in Tempeln […].
Er lässt sich auch nicht von Menschen bedienen, als brauche er etwas – er, der allen das Leben, den Atem und alles gibt. […] Er wollte, dass die Menschen nach ihm suchen – ob sie ihn vielleicht spüren oder entdecken können. Denn keinem von uns ist er fern. In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“

Apg 17, 23-28

Was macht Paulus hier? Er knüpft an bei dem, was die Menschen kennen und tun, bei dem, was ihnen wichtig ist, – und sagt: Keinem von Euch ist Gott fern. Gott ist nahe dem, was ihr alles versucht, was ihr verehrt, was ihr versteht. Er, der All-Schöpfer, hat alles gemacht. Darum seid ihr schon immer – als seine Geschöpfe – Teil seines Plans, Teil seiner Welt. Ja, ihr verehrt ja schon Dinge, die ihm wichtig sind: Eure Gesundheit zum Beispiel, aber auch dass es Euch gut geht, bis in Luxus hinein, will er. Spiritualität und Kunst will er – und Engagement. Dass Euch das alles auch wichtig ist, freut ihn. Ihr sucht das Richtige.

Gerade weil auch wir Kirchenchristen aller Konfessionen längst keine gesellschaftsdominierende Mehrheit mehr sind, verweist diese Botschaft uns auf die vielen nichtkirchlichen, säkularen ‚Altäre’ Gottes in unserer Stadt – auf inspirierende Orte voll sozialer Phantasie und mit kulturellem Sexappeal, an denen man sich über die großen Dinge des Seins austauscht. Dass diese Altäre derzeit wegen Corona alle unbespielt und un-beweihräuchert bleiben, tut nicht nur denen da draußen nicht gut, sondern auch uns nicht. Wir werden nicht mehr neuartig in Frage gestellt. Das einzige quasi-religiöse Hochamt scheinen die Pressekonferenzen von Wiehler, Drosten und Spahn zu sein. So sehr sie sich mühen, das kann nicht alles sein. Jetzt haben Schauspieler versucht, einen Gegenpol zu bilden – und scheitern schon wieder an sich selbst.

Und jetzt?

Aber es gibt sie weiter: Die Fragen, die viel tiefer dringen als die Pandemie. Aber: Fragen sind nicht Antworten, Fragen beantworten sich nicht von selbst. Deshalb meint Paulus, nachdem er die richtigen Ansätze der Athener gewürdigt hat: Wir sollen „nicht meinen, die Gottheit sei gleich den goldenen, silbernen und steinernen Bildern, durch menschliche Kunst und Gedanken gemacht.“ Wir können nur fragen, wir können sogar radikal fragen – Kunst und Literatur und Philosophie tun das auch – aber antworten sie auch? Sie versuchen es, sicher, aber tragen menschliche Antworten auf menschliche Fragen? Kann man aus dem Material menschlicher Fragen und Sehnsüchte rettende Götter fabrizieren?

Paulus meint natürlich: Nein! Deshalb setzt er seine Rede auf einmal als Bußprediger fort, – ganz unerwartet:

„Nun – Gott sieht nachsichtig über die Zeiten hinweg, in denen die Menschen ihn nicht gekannt haben. Aber jetzt fordert er alle Menschen an allen Orten auf, ihr Leben zu ändern. Denn Gott hat einen Tag festgesetzt, um über die ganze Welt zu richten.“

Paulus beginnt hier damit, den unbekannten Gott bekannt zu machen. D.h.: Nach der Würdigung der richtigen Fragen, bringt er die richtige Antwort. Und die klingt nicht angenehm: Man soll sein Leben ändern! – Dafür hatten die Athener ihren Altar für den unbekannten Gott sicher nicht gebaut. Dafür ist auch kein Karstadt, kein Frankenstadion, keine Meistersingerhalle gebaut. Gott, sagt Paulus, will die Welt richten. Und diese Gerichtsbotschaft soll bewirken, dass möglichst viele sich noch darauf einlassen und sich darum umstellen. Dass das erste, womit sich dieser Gott bekannt macht, „Gericht“ ist, ist natürlich eine Spitze gegen den Areopag selbst. Denn nicht nur der Hügel heißt so, sondern auch die Gerichtsbehörde die darauf tagt. Paulus sagt hier also zwischen den Zeilen: Areopag-Gericht schön und gut, aber der eigentliche Richter ist Gott. Und das bedeutet, dass es diesem Gott entscheidend, lebensentscheidend um Gerechtigkeit geht. Bei den Griechen gehört die Göttin der Gerechtigkeit Diké nicht einmal zu den olympischen Hauptgöttern; sie ist eine Untergöttin unter vielen.

Und wie sieht es bei uns aus?

Der Justiz haben wir immerhin Paläste gebaut wie an der Fürtherstr., wo sogar Weltgeschichte geschrieben wurde. Aber den Bereich der Religion halten wir gern von Justiz-Fragen fern. Religion muss doch das Leben erleichtern, befreien und nicht mit Paragraphen einengen. Religion, da muss es doch um einen fröhlichen, lieb-reizenden Schwebezustand gehen – oder zumindest um frohgemute Lebens-Motivation. Aber nicht um Rechtsfragen!

Wie stark diese Abwehr von Recht in der Kirche ist, erlebe ich gerade hautnah, da ich mich mit Recht und Rechtsanwalt gegen meine Vertreibung aus der Melanchthonkirche wehre. Das wird als sehr unpassend empfunden. Und ob sich das Recht durchsetzt, ist bis heute fraglich. Wie sehr unser Glaube mit dem Recht verschmolzen ist, zeigt letztlich das Kreuz Christi. Denn er stirbt hier zum einen an der fehlgeleiteten Gesetzlichkeit der Schriftgelehrten, zum anderen von Gott her an unseren Gesetzesbrüchen. Und typisch für das Religionsverständnis unserer Zeit ist auch hier, dass das Kreuz heute gern aus der Mitte des Glaubens weggeräumt wird, – bis hin zu Neugestaltungen von Kirchenräumen.

Paulus dagegen predigt: Recht und Gerechtigkeit gehören ins Zentrum unseres Glaubens und sind nicht das Kleingedruckte in irgendwelchen Fußnoten. Und dies sei nicht bloß eine Botschaft vom Himmel, sondern sie ist beglaubigt und geerdet durch den auferstandenen Menschensohn:

„Dann wird er Gerechtigkeit walten lassen – durch den Mann, den er dazu bestimmt hat. Dass dieser Mann wirklich dafür bestimmt ist, hat Gott allen Menschen durch dessen Auferweckung von den Toten bewiesen.«

Gott hat seinen Generalbevollmächtigten, diesen Mann Jesus, durch den Tod hindurch bestätigt. Nicht der Tod besiegelt die Bilanz seines Lebens wie bei Sokrates oder Cäsar, wie bei Mahatma Gandhi oder Prinzessin Diana, sondern Jesu Siegel ist sein neues Leben. Das neue Leben im Reich der Gerechtigkeit, das uns allen versprochen ist. Das ist ja eigentlich die Pointe, wenn Gott zu Buße aufruft, zum „Ändert Euer Leben!“. Dieses geänderte Leben soll nicht einer ideologischen Weltverbesserung dienen; das geänderte Leben ist auch nicht der Preis, mit dem wir Gott etwas abkaufen könnten. Sondern es könnte einen Vorgeschmack geben auf das gerechte, ewige Leben.

Aber soweit kommt Paulus gar nicht, weil das Stichwort Auferstehung die Zuhörer endgültig spaltet und die meisten abwinken lässt. „Darüber wollen wir dich ein andermal hören“, sagen sie und gehen weg. Nur wenige bleiben. Wer auf dem „Markt der Möglichkeiten“ spricht, darf nicht mit einem überwältigenden Massenerfolg rechnen.

Wir dürfen Gott selbst fragen: Bin ich hier richtig?

Die Landeskirche schreibt uns gerade im Zuge des Struktur-Prozesses PuK vor, wir sollten jetzt endlich nicht nur für das Häuflein klein im Gottesdienst arbeiten, sondern wir müssten jetzt die Unerreichten erreichen. Was dem für ein Erfolg beschieden sein wird, sieht man an Paulus. Aber – biblische Begründungen finden sich in den PuKPapieren ohnehin nur ganz wenige.

„Bin ich hier richtig?“ Das war ja die Einstiegsfrage. Die meisten Athener, die sich durchaus richtig fühlten am Altar des unbekannten Gottes, fühlten sich nach seiner Bekannt-Machung durch Paulus nicht mehr richtig. Und wir? Auch wir sollen uns in unserem Nachfragen und Nachhaken durchaus durch die scharfen Fragen unserer atheistischen Kulturträger radikalisieren lassen. Aber dann können wir an diesem (zeigt auf den Kirchenaltar) Altar damit ernst machen, dass wir keinen unbekannten, sondern einen offenbaren Gott haben. Wir dürfen Gott selbst fragen: Bin ich hier richtig? Und die Apostel damals und wir Pfarrer und Pfarrerinnen heute sind Ihnen schuldig zu antworten, warum und inwiefern sie hier eben richtig sind. Mit weniger müssen Sie sich nicht zufrieden geben. Der christliche Glaube denkt! Das Wunder und das Absurde sind eben NICHT des Glaubens liebstes Kind! Das früheste Zeugnis davon ist die Botschaft des Paulus – und die finden wir am besten allerdings nicht in der Apostelgeschichte, sondern in seinen echten Briefen. Darin nun weiterzulesen, ist so schwierig wie das Leben, Aber genauso lohnend.

Amen.

Dr. Matthias Dreher, Pfarrer

Predigt zum Sonntag Misericordias Domini – „Der Herr ist mein Hirte“

Von Pfarrerin Gabriele Edelmann-Richter am 18.04.2021 in der Stephanuskirche in Gebersdorf

Hes, 34,1-2.10-16.31

Der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im AT beim Propheten Hesekiel im 34. Kapitel:
Und des Herrn Wort geschah zu mir: Du Mensch, weissage als Prophet zu den Hirten Israels und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich nur selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?
Ja, so spricht Gott der Herr: Seht her, ich werde meine Schafe suchen und mich selbst um sie kümmern. Ich mache es genauso wie ein guter Hirte, wenn seine Schafe sich eines Tages zerstreuen. Ja, so werde ich mich um meine Schafe kümmern. Ich rette sie von allen Orten, an die sie zerstreut waren – an dem Tag, der voll finsterer Wolken sein wird. Ich führe sie weg von den Völkern und sammle sie aus den Ländern. Ich bringe sie zurück in ihr eigenes Land. Ich werde sie auf den Bergen und Tälern Israels weiden, an allen Weideplätzen des Landes. Ihr Weideland wird auf den hohen Bergen Israels liegen. Ja, ich lasse sie dort auf gutem Weideland lagern. Auf den Bergen Israels finden sie eine grüne Weide. Ich weide meine Schafe und ich lasse sie lagern. So lautet der Ausspruch von Gott dem Herrn. Verirrte suche ich und Verstreute sammle ich wieder ein. Verletzte verbinde ich und Kranke mache ich stark. Ich will sie weiden, wie es recht ist.
Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide und ich will euer Gott sein, so spricht der Herr.“

Liebe Gemeinde,

Hesekiel, ein Prophet des 6.Jhdts. v. Chr., ist ein klassischer Prophet. Er bemüht sich, das Volk Israel zur Umkehr zu rufen.
Wenn das gelingt, so verspricht er ihnen, wird das Volk Gottes Güte und die daraus entspringende Hoffnung erfahren.
Aber zunächst geht Hesekiel mit den Mächtigen des Landes ins Gericht. Im alten Israel wurden diese als Hirten bezeichnet. Sie sorgten für das Volk und verteidigten es gegen Feinde.

Wenn Sie den Predigttext genau verfolgt haben, ist Ihnen aufgefallen, dass aber etwas schiefgelaufen sein muss. Denn im 6. Jhd. v. Chr. kam es zur Deportation der Oberschicht Jerusalems nach Babylon, das liegt im heutigen Irak.
Hesekiel, der selbst als Sohn eines Priesters der Oberschicht angehört, ist sauer.
Er wirft den Mächtigen vor, ihr Land verraten zu haben, sich nicht genügend um das eigene Volk gekümmert zu haben, auf eigene Vorteile geschaut zu haben.
All das seien Gründe, die zu dieser Katastrophe des Exils geführt haben.

Ganz schön mutig, wie sich Hesekiel da gegen seine eigenen Leute stellt.

Ich bin mir sicher, wenn sich Menschen zurzeit treffen dürften, in der Kneipe oder im Biergarten, da würden momentan viele in diese Klage miteinstimmen.
Viele von uns haben das Gefühl, dass „die da oben, vor allem die in Berlin, ihre Macht nur für sich selbst gebrauchen. Uns fallen spontan Politiker ein, die vor allem ihre Wiederwahl vor Augen haben, und da fallen beim Regieren die Nöte des Volkes und der Schwachen der Gesellschaft schon mal aus dem Blick.

Uns fallen auch die großen börsennotierten Unternehmen ein, die nach jahrelangen satten Gewinnen sich nicht scheuen, bei den Coronahilfen kräftig die Hand aufzuhalten.

Uns fallen auch Kirchenleute ein, die unsere Gemeinden wie Zahlenspiele auf dem Schreibtisch liegen haben und gar nicht wissen, was eigentlich an der Basis los ist.

Hesekiel sagt uns im Namen Gottes: Macht bedeutet, Verantwortung für die Schwachen, für die Verirrten und Bedürftigen zu übernehmen.
Als Sprachrohr Gottes sagt er, dass zu einer guten Regierung immer auch die Sorge um die gehört, die nicht mitkommen, die am Rand stehen.

Ja, wir könnten lang mitjammern.
Aber ganz so einfach dürfen wir es uns doch nicht machen!

Denn wir sind auch Hirten!

Ich als Pfarrerin, Sie als Chef, als Kollegin, als Kirchenvorsteherin, als Vater oder als Mutter, als Nachbar…
Wir sollen füreinander Hirten sein, sagt Gott – füreinander da sein und füreinander sorgen.

Die Kritik von Hesekiel trifft also letztlich alle Menschen, die in der Verantwortung für einen anderen Menschen sind.
Weil er die Missstände sieht, schreibt Hesekiel weiter in unserem Bibeltext:
Euch wird die Verantwortung entzogen. Euch gehört die Herde nicht mehr.
Ein wirklich vernichtendes Urteil über die menschlichen Hirten!

Angesichts der ernsten und sehr schwierig zu beurteilenden momentanen Krise, in der jeden Tag Entscheidungen gefällt werden, die wir nicht ganz überblicken, wächst die Sehnsucht nach einer Kraft und einer Macht, die alles überblickt und richtig macht.
Obgleich natürlich keiner von uns wie ein dummes Schaf geführt werden will.
Ist es doch so, dass ein guter Hirte hinter seiner Herde her läuft und aufpasst, dass sich keines seiner Tiere verirrt und verloren geht.

Damals verkündet Hesekiel dem Volk Gottes den Heilsplan:
Gott ist der Hirte! Er selber wird sein Volk behüten!
Das heißt:
Gott nimmt die Menschen an.
Er sucht die Verirrten.
Er rettet die Zerstreuten.
Er verbindet die Wunden.

Klar, das Bild des Guten Hirten berührt die Sehnsucht, die tief in der Seele des Menschen verwurzelt ist.
Jeder Mensch sehnt sich nach einem behüteten Leben.
Jeder Mensch hat den Wunsch nach Geborgenheit bei einem anderen Menschen, gerade in der momentanen Zeit.

Hesekiels Prophezeiung hat sich damals erfüllt.
Das Volk Gottes durfte nach einigen Jahrzehnten im Exil wieder nach Jerusalem zurück und dort den Tempel neu aufbauen. Will heißen, auch die Menschen nahmen ihre Verantwortung wahr an dem Platz, an den sie gestellt wurden.

Etwa 500 Jahre später kam dann wieder einer, der zu seinem Volk gesagt hat:
„Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir und ich gebe ihnen das ewige Leben.
Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen!“

Liebe Gemeinde,
diese unendliche Liebe Jesu wird uns bei der Taufe zugesprochen und gilt einem jeden von uns ganz persönlich.

Der berühmte protestantische Theologieprofessor Karl Barth wurde einmal gefragt, was denn nun für ihn die Zusammenfassung seines Glaubens sei. Er antwortete mit einem alten Kirchenlied:

„Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten, der mich liebet, der mich kennt und bei meinem Namen nennt!“

So einfach ist das mit dem Glauben. Und das aus dem Mund eines hochangesehenen Professors.

AMEN

Predigt zum Sonntag Reminiszere

Von Pfarrer Dr. Matthias Dreher am 28.02.2021 in der Stephanuskirche in Gebersdorf

Symbolfoto: Weinberg

Das Lied vom unfruchtbaren Weinberg

„Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben. Er baute auch einen Turm darin und grub eine Kelter und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte. Nun richtet, ihr Bürger zu Jerusalem und ihr Männer Judas, zwischen mir und meinem Weinberg! Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! Sein Zaun soll weggenommen werden, dass er verwüstet werde, und seine Mauer soll eingerissen werden, dass er zertreten werde. Ich will ihn wüst liegen lassen, dass er nicht beschnitten noch gehackt werde, sondern Disteln und Dornen darauf wachsen, und will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen. Des Herrn Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing.
Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war blutiger Rechtsbruch; und auf Gerechtigkeit, siehe, da war schreiende Schlechtigkeit.“

Jesaja 5,1-7

Liebe Mitchristen hier in Gebersdorf,

Dieses Lied ist in seiner Härte und in seiner berechnenden Konsequenz ein gefährliches Wort der Heiligen Schrift. Denn in ihm klingen vertraute und belastende Erfahrungen von uns allen an, – ja vielleicht sind es sogar Grunderfahrungen nicht nur eines reifen sondern auch eines jungen Lebens. Es spiegeln sich in ihm Verhaltensweisen und Erfahrungen, die wir selber als Kinder
schon erlebt und gefürchtet haben, und die wir, so vermute ich, unseren eigenen Kindern, unseren Freunden, Arbeitskollegen, ja auch gerade den Menschen, die wir lieben, nicht ersparen, nämlich die Strafe durch Liebesentzug: Liebesentzug und Schweigen, Abbruch der Beziehung, die unser Das ein Tag für Tag trägt. Davon singt Jesaja hier. Kalte Abwendung, Preisgabe an das zerstörerische Chaos, das kennen wir eigentlich alle, selbst wenn wir es nicht so konsequent machen wie manche Familien
noch heute, die ihre Kinder, Jungen und Mädchen, gnadenlos fallen lassen, wenn sie den Wünschen der Eltern nicht entsprechen, oder wie manche ehemals Liebende, die einander erbarmungslos bekriegen, nachdem ihre Liebe wodurch auch immer abgestorben ist. Selbst wenn wir nur kurzfristig unsere Liebe entziehen, oder Liebe entzogen bekamen, – das Modell dieser Art von Erziehung ist uns allen sicher vertraut, seine Logik sitzt tief in unserer Seele. Sie treibt in Anpassung, in Unfreiheit und in Angst! Gefährlich.

Aber auch die anderen Erfahrungen, die dem Liebesentzug vorausgehen, kennen wir alle, nämlich die Erfahrungen von Vergeblichkeit und vom Umsonst unserer Mühe, von Anstrengungen ohne Erfolg. Im Beruf, in den Beziehungen der Liebe, in der Erziehung unserer Kinder, in der Arbeit in und an der Kirche, in Gesellschaft und Politik – alles umsonst, alles vergeblich. Lebensträume scheitern und lassen uns dann verbittert zurück. Ein Sohn, eine Tochter bricht ihre Ausbildung ab, Kinder finden sich im Leben nicht zurecht, obwohl wir alles für sie getan haben, – oder schon in der Jugend: der Freude der gerade erwachten Liebe folgt ihr schneller Tod. – Trotz allem, was man investiert hat, implodieren Freundschaften, und der Vorrat an Vertrauen reicht nicht. Alles, was wir an Liebeskraft, an Zeit, auch an Geld und Energie investiert haben – es war umsonst.

Gefährlich ist dieses sogenannte „Weinberglied“, weil es diesen Schmerz, diese Kränkung, diesen Frust, und v.a. die Strafe auch bei Gott sieht. Nicht nur wir kennen das Umsonst, nicht nur wir strafen mit dem Entzug unserer Liebe, nicht nur wir geben den Menschen preis, der unsere Zuwendung ausschlug, nicht nur wir pochen darauf, dass Leistung sich lohnen muss, sondern Gott selber tut es. Hat Gott diese Form des strafenden Rückzuges, diese Logik selber seiner Schöpfung eingegeben, so dass es nicht nur ein menschliches Verhalten ist, sondern sogar ein schöpfungsgemäßes Grundgesetz des Lebens? Dann wäre all dies Verhalten von Gott sogar so gewollt, sozusagen sanktioniert. Dann könnte ich mich, wenn ich mich so verhalte, immer auf Gott selbst berufen. Und umso leichter kann ich es gegen mich wenden und verstehen, dass ich schutzlos mir selbst überlassen bleiben muss, wenn ich mich Gott widersetze und seine Reaktion auf mein Tun provoziere. Gefährlich in nochmal anderem Sinn ist dieses Lied, wenn wir es deuten auf die Schwierigkeiten unserer Kirche: den immensen Traditionsabbruch, – oder unser dramatisches Kleinerwerden. Steckt hier in Jesajas Lied vom enttäuschten Weingärtner der Schlüssel zur Antwort auf unsere Fragen zur Misere und Zukunft der Kirche:

  • Warum muss gerade unsere Generation so stark abbauen, einschränken, zurücknehmen, auflösen, umstrukturieren? Ich sage nur PUK.
  • Was haben wir falsch gemacht?
  • Sind wir vielleicht nicht glaubwürdig genug, als Pfarrer, als Kirchenvorstand, als Gemeinde, als Kirchenleitung?
  • Trifft uns daher Gottes Zorn?
  • Hat Gott uns preisgegeben und pflegt er seine Kirche nicht mehr?

Der verstorbene hessische Kirchenpräsident Peter Steinacker, bei dem ich noch studiert habe, hat zu diesen Fragen angesichts unseres Weinberg-Lieds ein beeindruckendes Zeugnis gegeben. Er schreibt:

„Ich gestehe, dass ich mich von diesem Text, den ich kenne und liebe, seit ich ihn im Theologiestudium in der Jesaja-Vorlesung gehört habe, oft verführen ließ. Ich habe in Situationen meines Lebens, in denen mich die Reue über Schuld, Fehlverhalten und Angst vor Folgen und Liebesentzug sowieso schon niederdrückte, diesen Eiseshauch als verdiente Reaktion Gottes geglaubt. Nicht nur meine Schuld, auch der Rückzug meines Gottes, dessen liebevolles, mich stets tragendes Erbarmen mir dann auch noch entschwand, das drohte mir dann den Boden unter den Füßen völlig wegzuziehen. Ich nahm meine Verzweiflung über mich und mein Fehlverhalten, über meine Kirche, mein Umsonst-aller-Mühe als logische Folge der strafenden Abwendung Gottes, der meinen Hochmut dämpft und meine Sorglosigkeit einfach nicht hinnimmt.“

So würde dieses Weinberglied eine destruktive, zynische Wirkung entfalten. Darin liegt seine Gefahr. Die Botschaft wäre dann das, was man heute schwarze Pädagogik nennt. Steinacker wollte das Lied dann so nicht mehr verstehen und auch wir haben alles Recht, es schöner zu verstehen, weil es sonst auch nicht in die Gesamtbotschaft Jesajas passen würde – und der Bibel schon gar nicht. –

Gut, immerhin, es bleibt dabei: Dieses Lied zeigt uns Gott nicht als lieben Gott. Hier redet kein gefühlloser, unberührbarer Gott, keiner, der unser Harmoniebedürfnis kosmisch befriedigt. Der Gott des Weinbergliedes kennt Angst, Sorge, Verletzung, Wut und Enttäuschung, denn er ist einer, der Antwort haben will, der unser Schweigen, unseren Lebens-Unsinn nicht erträgt. Ein Gott, dessen Liebe enttäuscht wird und der darauf reagiert – auch mit Strafe. Immer wieder höre ich den Satz: Wir haben keinen strafenden Gott mehr. Also wer das Alte Testament stehen lässt, hat den strafenden Gott noch. Und vorhin hörten wir aus dem Johannesevangelium (Joh 3,14-21), dass auch Jesus das Gericht verkündet. Aber gerade dort wurde deutlich, dass das Gericht eine Folge von Gottes Liebe ist. Gott will nicht richten, sondern retten. Gott ist aber ebensowenig ein Rettungs-Automat wie er kein Straf-Automat ist. Wer sich seiner Barmherzigkeit entzieht, landet im existentiellen Chaos. Ja, aber es gibt immer die Tür zurück, den Weg in die rettende Liebe. Auch als Richter kennt Gott nicht den Triumph des: „Da hast Du’s! Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Schau, wie du da wieder rauskommst.“

Und auch im Weinberglied geht es eigentlich nur um die Liebe. Auch die zornige Reaktion Gottes ist eingerahmt in die Liebe. Man sieht es an der Wendung: „die Männer Judas sind seine Pflanzung, an der sein Herz hing“. Jesaja singt ein Liebeslied. Er singt vom Schmerz der Liebe Gottes.

Ein Liebeslied?

Es ist sogar ein Liebeslied mit eindeutig erotischem Unterton. Der Weinberg, das ist ein allen Zuhörern vertrautes Bild für die Braut. An vielen Stellen der Bibel, besonders im Hohen Lied, ist der Vergleich des Weinbergs mit der erotisch Geliebten gewählt. Als Kostprobe lese ich Hoheslied 7: Er fängt an:

„Wie schön und wie lieblich bist du, du Liebe voller Wonne! Dein Wuchs ist hoch wie ein Palmbaum, deine Brüste gleichen den Weintrauben. Ich sprach: Ich will auf den Palmbaum steigen und seine Zweige ergreifen. Lass deine Brüste sein wie Trauben am Weinstock und den Duft deines Atems wie Äpfel“. – Und sie antwortet: „Meinem Freund gehöre ich, und nach mir steht sein Verlangen. Komm, mein Freund, lass uns aufs Feld hinausgehen und unter Zyperblumen die Nacht verbringen, dass wir früh aufbrechen zu den Weinbergen und sehen, ob der Weinstock sproßt und seine Blüten aufgehen, ob die Granatbäume blühen. Da will ich dir meine Liebe schenken.“

Hld 7,7-9.11-13

Das ist der Ton, in dem Jesajas Hörer normalerweise vom Weinberg hören. Gott scheut sich also nicht, sein Verhältnis zu uns sogar in erotischen Bildern zu beschreiben. So wie einem enttäuschten Bräutigam mit seiner treulosen und seiner Liebe nicht würdigen Braut geht es Gott mit uns. Dennoch: Es geht bei allem Vergleich mit unserer Liebe um die Liebe Gottes. Und von Gott verkündet uns ein anderer Prophet den entscheidenden Unterschied zwischen der erotischen Liebe unter uns und der Liebe Gottes: „Ich bin Gott und kein Mann!“, heißt es beim Propheten Hosea (Hos 11, 9). Das heißt, auch wenn seine Liebe nicht erwidert wird, pocht Gott nicht auf sein Recht und holt – etwa bei Hosea – sein Volk nach Hause. Gott ist eben „kein Vertilger“. Seine Enttäuschung führt nicht automatisch zu Vergeltung und ewigem Hass. Anders herum ist es: Gott lässt sich so auf uns ein, dass er in all seiner Allmacht eingestehen muss: „Auch ich kann hier nichts mehr tun. Sie haben meine Liebe enttäuscht. Aber wenn ich sie jetzt zwingen würde, würde ich die Liebe auch noch von meiner Seite aus zerstören. Das will ich nicht.“

Und wie es Gott jetzt geht, auch das kennen wir von uns: Es gibt Phasen auch in unserem Leben, in denen wir vom Leben und von anderen so enttäuscht sind, dass wir nur noch uns selber haben. Dann warten wir vergeblich darauf, angesprochen zu werden, angesehen und herausgeholt zu werden aus unserer Menschen- und Gottverschlossenheit. Wüste, Dornen und Disteln, auch das gehört zu unserem Leben, auch zu unseren Glaubenserfahrungen als Gotteserfahrungen. Zur Liebe und zum Glauben, das lehrt uns das Weinberglied, gehört auch die Passion: das Leiden aus Leidenschaft.

Und hier möchte ich den eigentlichen Schlüssel zum Lied von Gott, dem enttäuschten Liebhaber seiner Braut finden. Gott selber ist in das Gelingen seiner Liebe unwiderruflich verliebt. Darum geht er trotz Rechtsanspruchs und Enttäuschung in seine große Passion – uns zum Heil.

So dienen sein Zorn, seine eiskalte Abwendung, seine Emotionen letztlich auch wieder nur dazu, den Bann der bitteren Erfolglosigkeit zu brechen. Gott, der uns von Jesus als die unsterbliche Liebe ins Herz gesenkt wurde, Gott geht selber den Passionsweg der Liebe, deren „Umsonst“ nicht endgültig ist, weil es für Gottes Gnade kein Aus und Vorbei gibt. Das zeigt der Kreuzweg. Jesus zeigt uns, dass Gottes Liebe ins Gelingen verliebt ist, dass er selber sich ins Leid der Welt begibt, damit der Schatten des Umsonst und des vernichtenden Zorns, die Dornen und die Wüste unseres kleinen Lebens und des ungeheuren Leides der Welt nicht das letzte Wort haben.

Niemand hat das welt- und lebenserfahrener beschreiben können als Martin Luther. Seine Worte weisen den Weg aus dem Umsonst und der Angst – zur dankbaren Freude an unserem hilfreichen Hirten. Damit schließe ich:

„Wenn du diesen Hirten kennst, so kannst du wider Teufel und Tod dich schützen und sagen: Ich habe ja leider Gottes Gebote nicht gehalten; aber ich krieche dieser lieben Henne, meinem lieben Herrn Christo, unter ihre Flügel und glaube, dass er ist mein lieber Hirte, Bischof und Mittler vor Gott, der mich deckt und schützt mit seiner Unschuld und schenkt mir seine Gerechtigkeit; denn was ich nicht gehalten habe, das hat er gehalten, ja, was ich gesündigt habe, das hat er mit seinem Blute bezahlt. Sintemal er ist nicht für sich, sondern für mich gestorben und auferstanden, wie er denn … spricht: Er lasse sein Leben nicht für sich, sondern für die Schafe. Also bist du denn sicher, und muss dich der Teufel mit seiner Hölle zufrieden lassen; denn er wird freilich Christo nichts anhaben können, der ihn schon überwunden [hat] und dich, so du an ihn glaubst, schützt und erhält.“

Amen.

Wesentliche Anregungen zu dieser Predigt stammen von Prof. Dr. Peter Steinacker (†)

Dr. Matthias Dreher, Pfarrer

Die Hochzeit zu Kana

Predigt zu Joh. 2, 1-11 am 2. Sonntag nach Epiphanias
von Pfarrerin Gabriele Edelmann-Richter

Liebe Gemeinde,

der heutige Predigttext steht im Johannes-Evangelium. Sie haben ihn vorhin bei der Evangeliumslesung schon gehört.

Und am dritten Tage war eine Hochzeit in Kana in Galiläa, und die Mutter Jesu war da. Jesus aber und seine Jünger waren auch zur Hochzeit geladen.
Und als der Wein ausging, spricht die Mutter Jesu zu ihm: Sie haben keinen Wein mehr. Jesus spricht zu ihr: Was geht’s dich an, Frau, was ich tue? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.
Seine Mutter spricht zu den Dienern „Was er euch sagt, das tut“.
Es standen aber dort sechs steinerne Wasserkrüge für die Reinigung nach jüdischer Sitte und in jeden gingen zwei oder drei Maße.
Jesus spricht zu ihnen: Füllt die Wasserkrüge mit Wasser! Und sie füllten sie bis obenan.
Und er spricht zu ihnen: Schöpft nun und bringt’s dem Speisemeister! Und sie brachten’s ihm.
Als aber der Speisemeister den Wein kostete, der Wasser gewesen war, und nicht wusste, woher er kam – die Diener aber wussten’s, die das Wasser geschöpft hatten -, ruft der Speisemeister den Bräutigam
und spricht zu ihm: Jedermann gibt zuerst den guten Wein und, wenn sie betrunken werden, den geringeren; du aber hast den guten Wein bis jetzt zurückbehalten.
Das ist das erste Zeichen, das Jesus tat, geschehen in Kana in Galiläa, und er offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn.

Das Szenario: Eine Hochzeitsfeier ist in vollem Gang und der Wein droht auszugehen. Wirklich oberpeinlich für den Gastgeber!
Doch der Gastgeber, der Bräutigam, hat Glück.
Jesus hilft ihm aus der Patsche, er verwandelt das Wasser in den Krügen zu Wein, sechs Krüge a zwei oder drei Maße, das sind ungefähr 600 Liter bester Wein. 

Fast jeder kennt diese Geschichte aus der Bibel. Es ist eine der bekanntesten Wundergeschichten.

Doch worum geht es hier eigentlich genau? Geht es nur darum zu zeigen, dass Jesus Wunder tun kann? Oder geht es um weit mehr als das?

Am Ende heißt es: „Das war das erste Zeichen, das Jesus tat – und er offenbarte seine Herrlichkeit.“
Aha – Die Herrlichkeit Gottes auf Erden! – darum geht es also in dieser Geschichte vom Weinwunder, es geht um das Licht Gottes, das in Jesus Christus zu uns gekommen ist. Deshalb ist dieser Predigttext auch für die Epiphanias Zeit ausgewählt worden, die Zeit im Kirchenjahr, in der es um die Erscheinung Gottes in der Welt geht. 
„Das war das erste Zeichen, das Jesus tat“, sagt der Evangelist. Das Weinwunder war also mehr als ein spektakuläres Kunststück, das alle bewundern sollten. Es war ein Zeichen, das für etwas steht, eine Art Wegweiser, der in eine Richtung zeigen will, zu etwas Größerem hin, etwas Wichtigerem als Wein für eine Hochzeit.
Jesus ließ die Menschen durch dieses Zeichen ein Stück des Himmels sehen, ein Stück göttlicher Liebe, Macht und Kraft – er offenbarte seine Identität:
Er war der Sohn des lebendigen Gottes! –  nicht nur der Sohn des Zimmermanns Josef aus Nazareth.
Deshalb ist es so eine schöne Geschichte, dieses Weinwunder von Kana. Denn die Botschaft scheint klar: Gott ist mit seiner Herrlichkeit mitten unter uns – und hilft uns in unseren Nöten, egal, worum es geht.

Wenn wir aber noch einmal genau auf den Text schauen, stellen wir fest, dass sich Jesus zunächst gar nicht offenbaren wollte; ja, dass er sich geradezu weigerte, einzugreifen. Sehen wir auf den Dialog mit seiner Mutter Maria. Sie, die gesehen hatte, dass der Wein ausgeht – und die wusste, wer Jesus war und was er vermochte, spricht ihn an: „Sie haben keinen Wein mehr!“ Die ungesagte Botschaft dahinter lautet: „Sohn, mach doch was!“
Doch was antwortet ihr Sohn darauf?
„Was geht’s dich an, Frau, was ich tue: Meine Stunde ist noch nicht gekommen.“
Jesus weist sie deutlich zurück. In Luthers Übersetzung klingt es wirklich schroff.
Aus heutiger Sicht geht das gar nicht. Ein unmögliches Verhalten!

Weder Maria noch das Problem, das sie anspricht, scheinen Jesus zunächst zu interessieren.
In diesem Moment leuchtete noch nichts von der Herrlichkeit Gottes auf Erden auf.
Doch dann fügt Jesus seiner Abweisung eine interessante Anmerkung hinzu, die für das Verständnis seiner Reaktion sehr wichtig ist. Er sagt: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen!“
Was meinte er damit? Wollte er mit dieser Ansage Maria auf später vertrösten, auf später am Tag?  Wohl kaum.

Wenn man das Johannes-Evangelium aufmerksam liest, fällt auf, dass der Evangelist diesen Begriff öfter gebraucht, dass Jesus öfter von seiner Stunde redet, die „kommt“ oder später dann „gekommen ist“.
Wenn Jesus von seiner Stunde redet, meint er damit die Zeit, in der sich sein göttlicher Auftrag erfüllt. Der Auftrag, nach Jerusalem zu gehen, um am Kreuz das Leid und die Schuld aller Menschen auf sich zu nehmen und durch sein Sterben die Menschheit zu erlösen. Und der Auftrag, dem Tode die Macht zu nehmen – und in der Auferstehung die Herrlichkeit Gottes in Kraft zu offenbaren.

Und diese Zeit, diese Stunde Jesu, war am Tag der Hochzeit zu Kana noch nicht gekommen.

 Als Maria ihren Sohn auf den fehlenden Wein ansprach, stand der erst ganz am Anfang dieses schweren Weges, den er gehen sollte.
Vielleicht reagierte Jesus deshalb so schroff auf seine Mutter.  Weil im Vergleich zu dem Großen, was vor ihm lag, dieses Weinproblem nun wirklich uninteressant war.
Jesus war nicht für solche Kleinigkeiten von Gott gesandt, nicht, um punktuell Heilung zu bringen oder im Bedarfsfall Probleme zu lösen.

 Jesus Christus war von Gott gesandt, um das Ganze zu heilen, um alles zu überwinden, was uns Geschöpfe von unserem Schöpfer trennt, wirklich alles, bis hin zu unserer Endlichkeit – und uns wieder zu vereinen und zu versöhnen mit unserem himmlischen Vater!

Warum Jesus sich dann schließlich um das Weinproblem kümmerte – und die Wasserkrüge füllen ließ, wissen wir nicht.

Maria, seine Mutter, hoffte auf seine Barmherzigkeit.
„Was immer er euch sagt, das tut!“, sagte sie zu den Dienern.

 Und so setzte Jesus ein Zeichen: Das Wasser wurde zu Wein. 
 Es war das erste Zeichen von vielen, die folgten, um deutlich zu machen, dass bei Gott nichts unmöglich ist – und er alles vermag. Ein Zeichen, das auf den Gesalbten, den Sohn Gottes, hinwies, nicht mehr und nicht weniger.
Solch ein Zeichen Gottes kann auch uns Mut machen, aber es kann nicht die einzige Grundlage unseres Glaubens sein, dann würden wir scheitern.

Wie gerne hätten wir in der momentanen Zeit ein klares Zeichen der Hoffnung. Zumindest einen festen Zeitpunkt in der nahen Zukunft, an dem wir mit dem Ende der Pandemie rechnen können.
Aber so einfach ist das leider nicht.
Uns bleibt nur das Vertrauen darauf, dass der, der vor 2000 Jahren Wunder getan hat, unserem Leben das Fundament gibt, auf dem wir sicher stehen können.
Die Zeichen, die er gab, dienen dazu, unseren Glauben daran zu stärken, dass Gott da ist und Interesse an uns hat. 

In den vergangenen Wochen hörte ich in vielen Gesprächen häufig von negativen Erlebnissen, von Frust, von Verzweiflung, von Aussichtslosigkeit.

Dem können wir entgegenwirken:
Psychologen lassen ihre Patienten aufschreiben, was sie über den Tag hinweg Gutes erlebt haben. Jedem schlechten Erlebnis müssen die Patienten ein gutes Erlebnis gegenüberstellen.
Das müssen keine spektakulären Ereignisse sein. Auch Kleinigkeiten können unser Herz erfreuen!
Freude über das pfiffige Verhalten des Enkels oder Freude über den Anruf einer alten Freundin!

 Ich bin mir sicher: Wenn wir uns aufmachen, nach Zeichen Gottes in unserem Leben und um uns herum zu suchen, werden wir fündig.
Dazu braucht es einen Moment der Stille, ein offenes Herz!
Dann finden wir Gott, der da ist, auch in unserem Leben, mit seiner Liebe, mit seinem Licht!

 Sollte das nicht gleich gelingen, so wollen wir Gott darum bitten, dass er uns wachrüttelt aus der Lethargie,
dass er uns die Augen öffnet für die schönen Dinge im Leben,
damit wir uns freuen können und spüren, wie lebendig unser Gott ist!

Amen

Predigt zum 1. Sonntag n. Epiphanias

Von Pfarrer Dr. Matthias Dreher am 10.01.2021 in der Stephanuskirche in Gebersdorf

Detailansicht Taufbecken in der Stephanuskirche

Zu der Zeit kam Jesus aus Galiläa an den Jordan zu Johannes,
dass er sich von ihm taufen ließe.
Aber Johannes wehrte ihm und sprach: Ich bedarf dessen, dass
ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir?
Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Lass es jetzt zu! Denn
so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Da ließ er’s ihm
zu.
Und als Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus dem Wasser. Und siehe, da tat sich ihm der Himmel auf, und er sah den
Geist Gottes wie eine Taube herabfahren und über sich kommen.
Und siehe, eine Stimme aus dem Himmel sprach: Dies ist mein
lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.

Matthäus 3,13-17

Liebe Brüder und Schwestern,

Johannes der Täufer tauft Jesus. Schöne, klare Geschichte. Ich vermute, es gibt jetzt hier drei Gruppen:
Die einen sagen: Ja! Ganz wichtige Grundgeschichte des Christentums. Kenne ich. Ist so passiert. Die ganze Dreieinigkeit tritt hier erstmals auf den Plan. Eine Geschichte, die jeder Konfirmand kennen muss.
Dann die zweite Gruppe, die sagt: Oh nee, wieder mal so ne typische Bibel-Geschichte: Treffen sich zwei Superfromme, planschen irgendwie im Wasser und dann spricht Gott höchstpersönlich vom Himmel runter. – Fast genau wie im richtigen Leben! Wozu muss ich das wissen?
Und dann könnte ich mir als dritte Gruppe noch die Kritischen denken – die Skeptiker. Die wissen: Johannes der Täufer taufte zur Vergebung der Sünden als dem letzten Ausweg vor dem ewigen Verderben.
So – und zu dieser Veranstaltung kommt jetzt ausgerechnet Jesus – und muss dann mit Johannes fast schon auskarteln, wer hier wen zu taufen hat. Dann kriegt Jesus seine emergency-exit-Taufe und darauf sagt Gott: Leute, das hier ist übrigens mein Sohn, den ich liebe. – Toll, warum braucht einer, zu dem sich Gott vor aller Welt bekennt, noch einen emergencyexit, einen Notausgang knapp vor der Sünden-Hölle?

Komische Geschichte.

So, aber jetzt beschwert sich vielleicht schon die erste Gruppe wieder und sagt: Jetzt ist das mal so ne schöne, eigentlich einfache Geschichte, da muss der Pfarrer die wieder kompliziert zerfieseln. – Ja, muss ich, denn erstens muss ich die Geschichte auch den Mitchristen aus Gruppe 2 und 3 nahebringen und zweitens haben wir die Geschichte nicht dann begriffen, wenn wir uns den Ablauf wie einen Film vorstellen können und sagen: Jawoll, das glaub ich, dass das so war. – Sondern richtig für meinen Glauben hab ich das hier erst begriffen, wenn mir klar wird, was mir das was bringt, dass Jesus hier getauft wird. Da müssen wir hin – und das hat ganz viel zu tun mit den Anfragen von Gruppe 2 und 3.

Zuweilen sind zur Interpretation der Bibel Seitenblicke hilfreich. Und so werfe ich einen ersten Seitenblick auf den Evangelisten Markus, der uns die gleiche Geschichte erzählt, aber nicht dieselbe. Bei Markus nämlich gibt es nicht dieses seltsam-schwülstige Gespräch: Wer von uns beiden ist würdiger? Warum ist die Taufe jetzt doch ok. Jesus sagt bei Markus kein Wort. Dafür spricht aber die Himmelsstimme Gottes nur zu ihm: Du bist mein lieber Sohn! – statt wie bei Matthäus, wo es eine Verlautbarung an alle Welt ist: Das ist mein lieber Sohn. – Diese Unterschiede sind schon einmal eine Warnung an alle, die meinen: So und nicht anders isses passiert. Matthäus erlaubt sich hier eine gewisse Erweiterung, die einen tiefen Sinn hat, auch wenn ein Regisseur vielleicht nur hätte filmen können, was Markus erzählt. Bei Markus übrigens ist die Taufe gleich das erste, was er überhaupt von Jesus erzählt. Johannes tauft ihn. Gott adoptiert ihn quasi: Du bist mein lieber Sohn. So! Ab jetzt ist er es. – Matthäus hingegen erzählt ja vorher schon, wie Jesus von der Jungfrau Maria geboren, von Herodes verfolgt und von den Weisen aus dem Morgenland besucht wird. Hier ist Jesus längst der Sohn Gottes von Geburt an, kommt aber jetzt zu Johannes und will ausgerechnet die Buß-Taufe zur Vergebung der Sünden haben. Matthäus lässt uns spüren: Das ist irgendwie peinlich. Peinlich für den Täufer, der ja den Größeren angekündigt hatte, dem er nicht würdig ist, die Schuhriemen zu lösen. Den soll er jetzt taufen, damit er seine Sünden los wird. Peinlich v.a. für Jesus. Aber auch peinlich für die ersten Christen und die Gemeinde, für die Matthäus schreibt. Der Messias sollte doch diese Taufe nicht brauchen. Das sagt jetzt auch Johannes zu Jesus. Und Jesus antwortet und das sind seine allerersten Worte bei Matthäus: „Lass es jetzt zu! Denn so gebührt es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ Eine schwierige, erstmal rätselhafte Erklärung: Der Ober, also Jesus, lässt sich vom Unter taufen, also von Johannes, und das soll gerecht sein – sogar total gerecht. Hm – gerecht kann ja viel sein: Jedem das Gleiche, oder jedem das Seine, oder das Gesetzesgemäße. Hier bei Matthäus heißt Gerechtigkeit umfassend das, was Gott will, also – alles, was Gottes Reich bringt und ausmacht, ist „Gerechtigkeit“ – und dazu gehört eben auch, dass Jesus, der Gottessohn, sich taufen lässt, wie die , für die er gekommen ist in diese Welt. Johannes hat ja gepredigt: Leute, demütigt euch endlich vor Gott, lasst ab von Eurem falschen Weg an Gott vorbei, lasst Eure Sünde abwaschen und kehrt um auf den neuen Weg mit Gott. Und genau diesen Gehorsam und diese Demut bringt Jesus auch. Modern gesagt: Er solidarisiert sich mit uns. Krass gesagt: Er deklariert sich selbst zum Sünder. Der Immanuel, der „Gott mit uns“, der Maria verheißen war, ist kein Gott, der heilig überm Boden schwebt und uns unantastbar den wahren Weg weist, nein! Wir haben einen Retter, der selbst da anfängt, wo wir immer wieder sitzen: In der Sünde, in der selbstgewählten Sackgasse, in Mist und Trotz und Eitelkeit und Gewalt. An Weihnachten mit dem Krippenkind hat Gott uns das schon gezeigt. Jetzt in der Taufe vollzieht Jesus diese Erniedrigung als mündiger Mensch selbst: „Ich ziehe Euch nicht von oben heroisch raus“, meint Jesus, „ich schiebe euch von unten aus dem Dreck der Gottlosigkeit.“ – Kein Wunder, dass das den Christen peinlich war. Matthäus dreht den Spieß um: Genau in dieser Peinlichkeit liegt die Gerechtigkeit, die das Reich Gottes bringt. Lukas – erwähnt die Taufe Jesu nur noch in einem kurzen Schlenker und der Evangelist Johannes lässt sie ganz weg.

Zweiter Seitenblick

Die großen Reformatoren vor Nürnberg. Holzschnitt eines unbekannten Künstlers, um 1560. (Bild: Museen der Stadt Nürnberg, Kunstsammlungen)


Sie haben von mir einen Abzug der sog. „Großen Nürnberger Reformation“ bekommen, ein in echt 1,5 m breiter Holzschnitt von 1560. Erstmal ein
verwirrend volles Bild. Links und rechts aufgereiht eine ganze Menge Leute: Links die Fürsten, die die Reformation unterstützt haben und rechts die Theologen der Reformation, angefangen von Jan Hus, dann Luther und als dritter Melanchthon. Die versammeln sich alle vor unserer Stadt Nürnberg, wie wir alle hier klar erkennen. Und auch die Wappendreiheit wird am Himmel kenntlich. So, aber jetzt kommt’s: Das Eigentliche, worum diese ganze evangelische Elite sich versammelt, das ist die Taufe Jesu in der Pegnitz vor Nürnberg. Wir sehen Gottvater im geöffneten Himmel, wir sehen die Geist-Taube auf Jesus herabschweben und natürlich sehen wir Jesus im Wasser, der mit gesenktem Kopf, also in Demut die Taufe von Johannes empfängt.

Was soll das denn jetzt? Wie kann man denn die Pegnitz mit dem Jordan verwechseln? Nein verwechselt haben das die Nürnberger im 16. Jahrhundert nicht, sondern sie haben sich den Jordan als ihren Fluss angeeignet, also als Pegnitz. Das Ereignis, von dem Matthäus berichtet, haben sie im Glauben angenommen – als das, was hier in Nürnberg gilt. Das ist der Gehorsam der Glaubens. Nicht nur glauben, dass da mal irgendetwas Seltsames vor hunderten von Jahren im fernen Israel passiert ist, sondern für sich annehmen, dass das hier und jetzt für mich passiert und Geltung hat. Und wenn sogar Gottes Sohn Jesus, Gottes geliebter Sohn, sich vor Gott für uns demütigt, dann sollten wir das erst recht tun und – wir können es auch, weil wir ihn ja in unserer Mitte haben als den Anfänger und Vollender von Glauben und Gehorsam. – Wenn wir „unten“ sind, wenn uns das Wasser bis zum Hals steht, wenn wir Umkehr, einen neuen Weg brauchen, dann ist ER gerade nicht fern von uns; dann ist er direkt neben uns. Darum knien auch all die mächtigen Männer links und die Weisen rechts, weil wir ja nicht stolz dastehen können, während sich unser Herr und Heiland unter die Taufe beugt. Das ist Nürnberger Glaube, der verstanden hat und insofern sollen und dürfen wir uns einreihen bei den großkopferten Tauf-Anbetern – und ich überlasse es Ihnen, ob sie das lieber bei den Mächtigen links oder den Schlau-Studierten rechts machen wollen. Vielleicht wollen ja die Frauen, die bislang gar nicht auf dem Bild sind, sogar eine neue dritte Reihe aufmachen … Für den Schluss-Teil möchte ich noch einen dritten Seitenblick riskieren – und der ist wirklich riskant. V.a. Paulus und der Hebräerbrief betonen, dass Jesus ohne Sünde
war, ja gewesen sein muss, um für uns Sünder zu büßen. Der stellvertretend Verurteilte kann die Menschheitssünden nur tragen, wenn er selbst davon rein ist. So war und ist es christliche Grundüberzeugung bis in neue Dogmatiken hinein.

Aber muss das wirklich so sein? Müssen wir daran festhalten, wenn Jesus sich doch selbst unter die Umkehr-Taufe zur Vergebung der Sünden beugt, wie es Matthäus selbst peinlich berichtet? Hebt das Dogma der Sündlosigkeit Jesus nicht doch wieder heraus, als hätte er sich nicht radikal mit uns solidarisiert? Wenn er sich selbst das Etikett „Sünder“ umhängt, erst in der Taufe am Jordan, und dann am Kreuz auf Golgotha, sind wir dann nicht guru-versessene Gläubige, dass wir seine Heiligkeit in zeitloser Reinheit behaupten statt eben in seiner Umkehr, durch die er sich gleichgemacht hat mit uns? Die Stimme Gottes aus dem Himmel sagt wörtlich übersetzt: „Das ist mein Sohn, der geliebte; an ihm habe ich Wohlgefallen gefunden.“ Und das klingt eigentlich schon nach dem Sünder, der radikal umgekehrt ist.

Martin Luther hielt zwar an der Schuldlosigkeit Christi fest, betont aber:

„Wir müssen erkennen, dass Christus ebenso wie Fleisch und Blut, so auch Sünde, Tod und alle Strafen angezogen hat. Wer es nicht wahrhaben will, dass Christus ein Sünder ist, der leugnet auch den Gekreuzigten.“

WA 40 I, 434

„Ich habs oft gesagt, und sag es noch: Wer Gott erkennen … will, der schau in die Krippe, heb unten an und lerne erstlich erkennen der Jungfrau Maria Sohn, geboren zu Bethlehem, so der Mutter im Schoß liegt und säugt oder am Kreuz hängt, danach wird er fein lernen, wer Gott sei. Solches wird alsdann nicht schrecklich, sondern aufs allerlieblichste und tröstlichste sein.“

An Weihnachten ist Gott Mensch geworden; zu Epiphanias wurde er kenntlich nicht nur als Retter Israels, sondern der ganzen Welt. Und heute wird uns klar: Um diese ganze Welt und uns hier vor den Toren Nürnbergs zu retten, hat er sich radikal zum Sünder gemacht, um eingehakt mit uns aufzubrechen ins Reich Gottes. Das ist unser Trost. Halleluja.

Amen.

Dr. Matthias Dreher, Pfarrer

Vom Kommen des Reiches Gottes

Predigt zu 1. Thess. 5,1-6 am 08.11.20 in der Stephanuslirche
von Pfarrerin G. Edelmann-Richter

Liebe Gemeinde,

Wie schon in unserer Evangeliumslesung, so geht es auch in unserem heutigen Predigttext um den Tag des Herrn, uns besser bekannt als der Jüngste Tag, mit dem das Reich Gottes beginnen soll.
In früheren Zeiten war dies eine gewichtige und allgegenwärtige Vorstellung, die großen Einfluss auf das Leben und Handeln der Christen hatte.

Vielen Menschen der Moderne sind diese Vorstellungen fremd.
Da will man nicht mehr an den Tag glauben, der alles Dagewesene verändern soll, der wie ein großes Gericht Gottes über alle hereinbricht und schließlich in einem ungeheuren Sturm die Spreu vom Weizen trennt.

Zu fremd und zu alt hergebracht sind doch diese apokalyptischen Vorstellungen, die schon die Propheten des 8.Jahrhunderts vor Christus – allen voran Amos –  ausschmückten, oder die Vorstellungen, die wir aus dem letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, kennen.
Dramatische Szenen werden da geschildert, die doch eher an einen Untergang als an einen Neuanfang erinnern.
In etlichen Kinofilmen wurden diese Motive aufgenommen:
So in Tolkiens Ring-Trilogie, in „Armageddon“ oder in der endzeitlichen Schlacht um Hogwards, in der der Widersacher Harry Potters, der böse Lord Voldemort, vernichtend geschlagen wird.
Die Vorlagen zu diesen Endzeitgeschichten finden sich in den apokalyptischen Büchern der Bibel.

Sowohl zu Jesu Lebzeiten als auch zur Zeit des Paulus waren diese Vorstellung vom Ende der alten Welt, vom bald hereinbrechenden Beginn eines neuen Äons, eines neuen Zeitalters, in allen Köpfen.
Das müssen wir wissen, wenn wir den heutigen Predigttext verstehen wollen:

 1.Thess. 5,1-6:

Von diesen Zeiten aber und Stunden, Brüder und Schwestern, ist es nicht nötig, euch zu schreiben, denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt, wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen: „Friede und Sicherheit“, dann überfällt sie schnell das Verderben wie die Wehen eine schwangere Frau und sie werden nicht entrinnen.

Ihr aber seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichts und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen, wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.

Liebe Gemeinde,

 Jesus und auch Paulus erwarteten den baldigen Anbruch des Reiches Gottes. Jesus spricht dabei vom Menschensohn, der da kommen wird. Die ersten Christen identifizierten damit ihn selbst.  Als dann aber geschichtlich nichts Umwälzendes nach Jesu Tod gekommen ist, nimmt Paulus den Gedanken noch einmal auf und predigt abermals den baldigen Anbruch des Reiches Gottes.

Heute nach über 2000 Jahren wissen wir, dass mit der Hoffnung auf ein neues Zeitalter etwas anderes gemeint sein musste als eine spektakuläre Zeitenwende.
Wir gehen heute davon aus, dass die Zeit immer weiter geht.
Auch wenn sich die Menschheit in den nächsten Jahrhunderten aus Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur selbst die Lebensgrundlagen vernichtet, würde unser Sonnensystem noch Jahrmilliarden weiterbestehen.

Was hat es also mit dem Reich Gottes auf sich?

Jesus bringt es auf den Punkt: „Das Reich Gottes beginnt schon jetzt und ist mitten unter euch“, so sagte er es seinen nicht schlecht staunenden Zuhörern. Und dann erzählte er ihnen Gleichnisse wie das vom Barmherzigen Samariter und Geschichten, wo Menschen von Krankheiten geheilt und von bösen Dämonen befreit werden.
In diesen Handlungen, in diesen Geschehnissen ist Gottes Reich schon angebrochen.
So begegnet Jesus Fanatikern, die selbst Hand anlegen wollen, um das Reich Gottes mit aller Gewalt herbeiführen zu wollen.
Ich denke dabei an Judas, der ihn später verriet, weil er ähnlich den Zeloten das Reich Gottes zügig durchsetzen wollte.
Durch seine Erzählungen rüttelt Jesus auch die Gleichgültigen wach oder auch die Ängstlichen, die sich selber in allem zurückhalten, was für sie gefährlich oder zumindest nicht gleich von Nutzen sein könnte.

Und Paulus – auch er bezähmt die Endzeitfanatiker und bringt die Lethargiker in Schwung, indem er mahnt: „Der Tag des Herrn kommt, wie der Dieb in der Nacht!“
Das sollte heißen: „Ihr müsst ihn nicht herbeizwingen, aber verschlafen sollt ihr ihn auch nicht!“

Liebe Gemeinde,
was also dürfen wir hoffen, wenn es um den Tag des Herrn oder um das Reich Gottes geht?
Wissen wir doch, dass wir Hoffnung brauchen, da wir selbst oft machtlos vor einer Krankheit oder einer existentiellen Krise stehen.
Da stehen Fragen im Raum wie z.B. „werde ich meinen Schulabschluss schaffen?“, „finde ich eine Arbeit, die mir auch gefällt?“, „finde ich den richtigen Lebenspartner?“, „bleibe ich bis ins Alter geistig fit?“ und „wer versorgt mich, wenn ich alt geworden bin?“
Wahrlich, wir sind keine Hellseher und die, die sich als solche ausgeben, sind meist Scharlatane.

Und so hoffen wir alles in allem, dass es gut mit uns wird, dass unser Leben ein Ziel hat, das von Gott festgelegt wurde! Kein Produkt des Zufalls, sondern genauso von Gott gewollt!

Zwar möchten wir vieles planen oder zumindest die Wahrscheinlichkeit dafür ausrechnen, um uns sicherer zu fühlen, aber eigentlich müssen wir bekennen, dass sich der „Faktor Gott“ nicht in solche Pläne und Diagramme zwängen lässt.
Ein altes Sprichwort lautet ja: „der Mensch denkt – und Gott lenkt!“
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass uns diese Erkenntnis guttut.
Das passt gut zu unserem Predigttext.

Wir sind gefragt, hinzuschauen, anzupacken und einzugreifen, wo unsere Hilfe gebraucht wird, den Jüngsten Tag im wahrsten Sinne des Wortes nicht zu verschlafen, alles aber in der Hoffnung, dass nicht alles Gelingen in unserer Hand liegen muss, sondern wir der Macht und Kraft Gottes Etliches zutrauen können.
Eine Vertröstung auf den „Sanktnimmerleinstag“ wäre also hier völlig fehl am Platz.
Wir dürfen, sollen bereit sein für Spontanes, für Unvorhersehbares, ja sogar für Herausforderndes, weil wir die Zusage Gottes haben, dass er bei uns ist, heute und bis zum Ende aller Tage!

Paulus ging es in seinem Brief an die Thessalonicher um die Kunst des Lebens.
Selbst von Krankheiten gezeichnet, vom Schicksal hart gebeutelt, machte er der von ihm gegründeten Gemeinde Mut, auch mit Widersprüchen leben zu können.
Dem tieferen Sinn des Lebens auf der Spur zu bleiben, trotz des Hin und Her, das Ziel in Verantwortung Gottes gegenüber zu leben, nicht aus den Augen zu verlieren.

Der momentane Blick auf unsere Familien und der Blick nach vorne für unsere Gesellschaft gewinnen dann an Bedeutung, wenn wir unseren Weg als Kinder des Lichts und als Kinder des Tages gehen:

  • Nicht über das Vergangene zu lange nachgrübeln.
  • Den Krisen nicht zu viel Macht und Raum geben.
  • Die Sorgen bewusst vor Gott bringen.
  • Bereit sein für die Herausforderungen der Zeit.

Liebe Gemeinde,
Sie sehen, mit den Worten Jesu und den Briefen des Paulus werden die Zuhörer gecoacht!
Die Botschaft ist klar:
Christen dürfen sich umfangen lassen von der auf keine Zeiten festgelegte, unendlichen Liebe Gottes, die stark macht in guten wie in schlechten Zeiten.

AMEN

Predigt zum Reformationsfest

Von Prädikant Wilfried Kohl am 01.11.2020 in der Thomaskirche in Großreuth anlässlich des Brückengottesdienstes

Symbolfoto Jona und der Wal

Vor der Predigt wurde durch das Team ein Spielstück aufgeführt, welches zum besseren Verständnis hier mit aufgenommen wurde.

Spielstück „Jona und Gnade?“

Sprecherin (1): Gnade ist nicht ein Wort, was der Apostel Paulus erfunden hätte. Gnade spielt schon bei Noah und der Sintflut eine Rolle. Auch der Prophet Jona im Alten Testament stellt sich die Frage: „Wie gnädig ist Gott?“ Gott schickt Jona, den Propheten, in die große Stadt Ninive. Jona soll dort predigen gegen die Bosheit der Bewohner.

Jona: Ich will nicht! Ich mag nicht! Ich drücke mich einfach. Ich gehe an Bord eines Schiffes und fliehe nach Tarsis.

Sprecherin (2): Jona geht an Bord des Schiffes und das Schiff legt nach Tarsis ab. Doch Gott lässt einen Sturm aufkommen und das Schiff gerät in Seenot. Die Mannschaft des Schiffes und ihr Kapitän kommen auf den Gedanken, dass mit Jona irgendwas nicht stimmt. Sie stellen ihn zur Rede.

Jona: Nehmt mich und werft mich ins Meer, so wird das Meer still werden und von euch ablassen.

Sprecherin (1): Doch das Meer tobt weiter, obwohl sie Jonas’ Gott anriefen, Jona doch zu verschonen. Als sie Jona doch ins Meer warfen, legte sich der Sturm.

Sprecherin (2): Da ließ Gott einen großen Fisch kommen und Jona wurde von ihm verschlungen. Im Bauch des Fisches betete Jona zu Gott und versprach seinen Auftrag zu erfüllen. Daraufhin wurde er wieder an Land gespült. Jona predigte in Ninive.

Jona: Nur 40 Tage bleiben euch, dann geht Ninive unter.

Sprecherin (1): Aus Angst vorm Untergang glaubten die Menschen von Ninive fortan an Gott und hüllten sich in Sack und Asche. Selbst der König von Ninive legte seinen Purpur ab.

König: Mensch und Vieh soll fasten und heftig zu Gott rufen, dass er uns verschont. Ein jeder von uns kehre in sich und lass ab von bösen Machenschaften.

Sprecherin (2): Und Gott bereute sein bisheriges Vorhaben und verschonte Ninive. Jona aber wurde zornig und sprach zu Gott.

Jona: Ich habe es vorhergesehen, dass du es nicht machst. Daher habe ich mich gedrückt. Du bist einfach zu gnädig – zu barmherzig! Ich möchte jetzt lieber tot sein als leben.

Liebe Gemeinde,

„so nimm nun meine Seele von mir“, so spricht Jona in seinem Verdruss und Zorn über Gott, denn er möchte lieber tot sein als leben.

Jona nimmt plötzlich seine Aufgabe als Unheils Verkünder für Ninive ernst und wirft Gott vor A aber nicht B zu sagen.

Gott ist ihm zu gnädig und zu barmherzig, denn er verschont die Bürger von Ninive.
Was nun? Jona schmollt und beobachtet die Situation um Ninive weiter. Er lässt sich östlich von der Stadt Ninive in einer selbstgebauten Hütte nieder. Und Gott ist sogar noch um Jonas Wohlergehen bemüht, indem er einen großen Rizinus oder auch Wunderbaum genannt, wachsen lässt, der ihm Schatten vor der Sonne spendet. Doch die schattenspendende Wohltat Gottes an Jona hält nur kurze Zeit an, denn der Rizinus verdorrt durch die Zünzlerraupen. Jetzt sticht Jona die Sonne und er ermattet. Nun wünscht sich Jona erneut den Tod. Gott frägt Jona, ob er mit Recht zürnt, da Jona den Rizinus keine Pflege angedeihen ließ. Und Gott zieht den Vergleich mit Ninive, die große Stadt mit 120000 Einwohnern, die ihm nicht jammern sollte – Menschen, die weder rechts noch links wussten? Wohlergehen für sich selbst, lässt sich Jona gerne gefallen – doch für andere kennt Jona keine Gnade – nur Gerechtigkeit.

Fast auf den Tag genau feierten wir hier in der Thomaskirche vor 3 Jahren 500 Jahre Reformation und damit den Geburtstag der evangelischen Kirchen in Deutschland. Martin Luther, der Reformator und Augustinermönch, stand dabei im Mittelpunkt. Doch auch heute passt Luther zu Jona und zu unserem heutigen Predigttext aus dem Epheserbrief.

Zwischen dem Propheten Jona und seinem Umgang mit der Gnade und Martin Luther lassen sich gewisse Übereinstimmungen finden. Ich meine jetzt nicht die Parallele, dass Luther im Augustinerkloster weltabgewandt lebte – ähnlich dem Zustand Jonas im Bauch des großen Fisches. Vielmehr meine ich Luthers Ringen um Gottes Gnade. Martin Luther suchte für sich den gnädigen Gott und fand ihn über Jahre nicht. Die Angst plötzlich vor dem himmlischen Richter gerufen zu werden, setzte Martin Luther derart zu, dass er sich selbst in einem Beichtgespräch, wie er später bekannte, wie eine tote Leiche- also seelisch toter als tot fühlte. Paulus schreibt dazu im Brief an die Epheser:

„Gott hat uns seine ganze Liebe geschenkt und uns zusammen mit Christus lebendig gemacht. Das tat er, obwohl wir doch tot waren aufgrund unserer Übertretungen.“

Epheser 2, 4-5

In seiner Todesangst dachte Luther stets an den Höllenschlund. Dagegen half auch sein Eifer für fromme Übungen, wie stundenlanges Beten, Wachen, Fasten und intensive auch blutige Selbstkasteiungen, sowie Wallfahrten, nichts. Erst durch viel Nachdenken, Sinnieren, Bibellesen, Zuspruch von Freunden, Diskutieren mit ihnen und im Bekanntenkreis gewann Luther im Frühjahr 2018 – also erst nach dem Thesenanschlag, die Erkenntnis, dass wir nicht durch Werke, sondern allein durch den Glauben an Christus gerecht und selig werden. Dazu hat Luther wohl mehrfach den Text des Paulus im Brief an die Römer gelesen, wo es heißt:

Im Evangelium „wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welcher kommt aus Glauben in Glauben.“

Römer 1, Vers 17

Von Jona wissen wir nicht, ob er nach langem Nachdenken zu der Erkenntnis gelangte, die Gnade Gottes für Sünder und auch für sich selbst anzunehmen. Luther kam nach langem Ringen mit sich selbst dazu.

Philipp Melanchthon hat im Augsburger Bekenntnis (abgedruckt in unserem Gesangbuch auf Seite 1564 ff.) festgehalten unter dem Artikel 20: Vom Glauben und guten Werken: „Erstlich, dass unsere Werke uns nicht mit Gott versöhnen und uns nicht Gnade erwerben können, sondern das geschieht allein durch den Glauben – wenn man nämlich glaubt, dass uns um Christi willen die Sünden vergeben werden, der allein der Mittler ist, um den Vater zu versöhnen.“

Ich habe mich gefragt, was ist Gnade für mich und bin anders wie Martin Luther an für mich diesseitig Lebensnotwendigen hängen geblieben. Die Angst vor dem Fegefeuer spielte dabei keine Rolle. Alles gipfelt in der Beantwortung der Frage: „Was ist mir wichtig in meinem Leben?“ Gnade ist für mich: unsere funktionierende Ehe; die Beziehung zu meinen Kindern und zu meinen Enkeln, meine Arbeit und meine Hobbies und Gnade ist auch die Verkündigung des Wortes Gottes und natürlich auch Gesundheit. Gnade finde ich gut beschrieben im 3. Vers des Kirchenliedes Lobet den Herren alle, die ihn ehren:

„Dass unsere Sinnen wir noch brauchen können und Händ und Füße, Zung und Lippen regen, das haben wir zu danken seinem Segen. Lobet den Herren!“

Wenn ich meine 86-Jährige Mutter frage was ihr wichtig ist, dann kommt meist die Antwort, dass mein Hirnkästchen noch funktioniert. Von manch einem der Vätergestalten des Altes Testament heißt es er starb lebenssatt. Auch das kann Gnade sein. Und der Vater im Gleichnis Jesu sagt hinsichtlich seines zurückgekehrten und verlorenen Sohnes im Lukasevangelium:

Denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden

Lukas 15, 24

Alles, was wir uns selbst als Gnade vorstellen und dies sagt uns Paulus im Brief an die Epheser mehr als deutlich ist Gottes Geschenk. Ohne Gnade und ohne Gottes Zuwendung sind wir innerlich tot. Mitunter aus Tatortverfilmungen kennen sie einen EKG-Monitor: tot ist da der Ermordete mit lang ertönenden Piep-Ton.

Wie ein verlorener Sohn sind wir, die wir uns zu Christus bekennen jedoch zum Leben gelangt. Wir sind mit einem Bein bereits wiedergeboren und mit Christus auferweckt. Das ist unser Glaube und unsere Hoffnung und Gottes unendlich reiches Geschenk. Wir können also lachen und müssen kein Trübsal blasen – und auch gerade jetzt in den Pandemiezeiten nicht.

Für die letzten beiden Sätze unseres Predigttextes hab ich mir gedacht: Ist es eine gewisse Naivität von Paulus, dass wenn wir an Christus glauben, tatsächlich nur noch Gutes tun? – oder schafft Gott einen Automatismus für uns – wir können nur noch gut handeln? Und kommt durch die Hintertür unseres Predigttextes doch die Werkegerechtigkeit wieder? Ich habe mir dann selbst folgende Antworten gegeben. Glaube braucht tägliche Übung und Praxis – ich muss meine Lebenseinstellungen und Lebensführungen täglich überprüfen: Mag ich mich und liebe ich auch meine Nächsten, mit all meinen und den ausgemachten Fehlern der anderen. Kann ich mir meine Fehler verzeihen und auch denen, denen ich täglich begegne. Kann ich dies alles in ein Gebet kleiden und vor Christus bringen?

Der Evangelist Lukas hat ganz bewusst in die Aufforderung Jesu an seine Jünger – sein Kreuz auf sich zu nehmen und Jesu Weg zu folgen, die beiden Worte „jeden Tag“ eingefügt.

Wir benötigen daher liebe Gemeinde jeden Tag Gottes Geschenk der Gnade, aber auch jeden Tag Übung und Praxis – unser Kreuz – im Glauben zu tragen. Nur so bleiben wir lebendig. Und übrigens, beschenken lassen muss man sich schon und nicht wie Jona schmollen.

Amen

Prädikant Wilfried Kohl